Hier gebe ich euch den Link zur "The Morgan Library & Museum", wo ihr in die Karte hineinzoomen und die kunstvollen Verzierungen und Details bewundern könnt:
https://www.themorgan.org/collection/tarot-cards/the-chariot
Das Visconti Sforza Tarot
Wir beginnen den Monat mit einer neuen Serie von Tarotkarten, den Wagen mit der Nummer VII und fangen mit dem ältesten Tarotdeck, dem Visconti- oder Visconti-Sforza-Tarot an.
Es spiegelt das Alltagsleben im Spätmittelalter wider und gehört zu den ältesten Tarotdecks der Welt. Es wurde Mitte des 15. Jahrhunderts in Mailand für die bedeutenden Adelsfamilien Visconti und Sforza geschaffen.
In der Abbildung seht ihr sehr kunstvoll gearbeitet den Vorläufer der heute sehr bekannten Tarotkarte "Der Wagen". Im Visconti Tarot gab es noch keine Nummerierungen und auch keine Bezeichnungen der Karten. Es ist auch unklar, ob es überhaupt eine festgelegte Reihenfolge bei den Karten gab. Wie gefällt euch die Karte?
Wie noch zu sehen sein wird, ist die weibliche Wagenlenkerin auf dem Bild ein absolutes Highlight. In den folgenden Decks ist der Wagenlenker stets männlich.
Ausführungen von Gerhard Baumann
Wie den Interessierten versprochen, möchte ich hier meine Begeisterung für die „Wagen“-Karte im Visconti-Sforza-Tarot teilen. Soweit mir bekannt ist stehen der Wagen mit seinen Zugtieren und seiner Lenkung stets für Aufbruch, Mut, Einlassen auf etwas Neues etc.
Nun gibt es in der abendländischen Kulturgeschichte nur wenige Epochen, die so sehr von einem Neubeginn gekennzeichnet sind, wie die Renaissance. Und der Visconti-Sforza-Tarot stammt genau aus dieser Periode.
Neuerungen in der Renaissance
Am klarsten wird die Neuerung wohl sichtbar, wenn sie der alten, scheidenden Epoche gegenübergestellt erscheint. Die (meist sakralen) Gemälde des Mittelalters weisen keinen realen Hintergrund auf, keine Landschaft oder Inneneinrichtung eines Raumes. Die dargestellten Figuren stehen vielmehr vor einem wertvollen Goldgrund, der die metaphysische Dimension betont.
Diese goldene Ornamentik finden wir nun auf unserer Karte hinter der Wagenlenkerin, die somit nahezu nicht nur als vorwärts stürmende Heldin, sondern nahezu als messianische Erlöserfigur erscheint (wie sonst vor dieser kostbaren Unterlage nur die Heiligen, Maria und die Dreifaltigkeit).
Mit dem Beginn der Renaissance entdecken die Maler aber nun plötzlich die Landschaft oder die Zimmereinrichtungen hinter ihren Darstellern. Und diese verlieren das Steife ihrer Haltung.
Die Maler Giotto da Bondone und Duccio di Buoninsegna
Ein großartiger, sehr früher Wegbereiter dieser Entwicklung war das Genie Giotto da Bondone. Um 1300 malte er freilich die (jetzt in den Florentiner Uffizien hängende) Ognissanti-Madonna, die sich mitsamt ihren Begleiterinnen und Begleitern noch vor dem Goldgrund befindet. Er war dann aber unter den ersten, die einen blauen Himmel malten, und auch die ersten ernsthaften Versuche wagte, perspektivische Verkürzungen in Landschaften und Gebäudedarstellungen zu nutzen.
Ähnliches lässt sich über Giottos sienensischen Zeitgenossen Duccio di Buoninsegna behaupten.
Der Wagen im Visconti Sforza Tarot
Die Weiterentwicklung zum Realismus repräsentieren die beiden Pferde, die auf der Tarot-Karte den Wagen ziehen. Freilich sind es keine normalen Pferde. Es handelt sich auf jeden Fall um „Pegasus“ in doppelter Gestalt. Das geflügelte Musenross kannte man in der abendländischen Mythologie von Griechenland her sehr gut und schätzte es hoch – hier war kein Ausgriff auf Ägypten oder den Orient notwendig, wie bei späteren Karten, wo Sphinxen vor den Wagen gespannt werden.
Das vollständiger sichtbare rechte Ross vermittelt durch ein leichtes Abheben (insbesondere des vorderen rechten Hufs) den Eindruck, es würde nicht nur auf Erden weiterstürmen, um seiner Lenkerin eine reale, territoriale Horizonterweiterung zu verschaffen, sondern durch das (für einen Pegasus ganz normale) Abheben in den Äther auch das Eindringen in ungeahnte geistige Weiten.
Fasziniert bin ich übrigens auch von dem selbst für die Renaissance ungewöhnlichen Mut, eine Wagenlenkerin zu zeigen, gab es dafür doch kein Beispiel aus der Antike, welche in der Zeit des 14. bis 16. Jahrhunderts ja „wiedergeboren“ werden sollte (Re-naissance; ri-nascimento; Wieder-Geburt).
Ich dachte zunächst – wegen der relativ kurzen Haare – an einen Mann mit hübschen, leicht femininen Gesichtszügen. Dann gewann ich freilich durch deinen Kommentar, liebe Anna, die Gewissheit, dass es sich tatsächlich um eine Dame handelt.
Eine Bestätigung findet dies auch jederzeit, da mehrere Bilder dieses Tarots (überprüfbar über den Link zu „Morgan-Library and Museum“) Frauen mit kurzen Haaren zeigen. Wie weit war diese Gestaltung des Wagens durch seine Lenkerin allen späteren Ausgaben voraus!!!
Wie schon so manchmal geht nun wieder einmal mein persönlicher Pegasus mit mir durch und verführt mich zu einer gewagten, aber – wie sich herausstellen wird – nicht unwahrscheinlichen Theorie.
Ein Francesco Sforza (1401 – 1466) war ein militärisches Genie und wies politischen Scharfsinn auf. 1441 heiratete er Bianca Maria, die einzige Tochter von Filippo Maria Visconti, seines Zeichens Herzog von Mailand. Er war mit ihr aus politischen Gründen seit ihrem 5. Lebensjahr sozusagen verlobt. Die Hochzeit fand in der Abtei San Sigismondo in Cremona statt, die sie aus Sicherheitsgründen dem Dom der Stadt vorzogen.
Er war auch eng mit dem mächtigen Florentiner Cosimo de' Medici verbündet, beherrschte die Lombardei, einige Bereiche südlich des Po und sogar Genua. Seinen Hof füllte er mit italienischen Gelehrten und Griechen, die nach dem Fall von Byzanz geflohen waren (siehe Pegasus!). Das war freilich eine Position, die er nur durch die Heirat mit einer Visconti erringen hatte können.
Die Hochzeitsfeier dauerte mehrere Tage und bestand aus opulenten Banketten, Wettkämpfen, einem Wettrennen und einem Turnier. Außerdem gab es einen großen Kuchen, der den Torrazzo, den Kirchturm der Stadt, darstellte. Es ist möglich, dass dieser Kuchen der Ursprung des Torrone (Süßware; Nuss-Nougat) ist.
Sforza wurde nach dem Ableben Viscontis sein Nachfolger. Er entwickelte sich zum wohl erfolgreichsten Herrscher Italiens – anerkannt von allen anderen Stadtstaaten, wie etwa Venedig, aber auch von Frankreich durch König Ludwig XI.
Ist die Wagenlenkerin im Visconti Tarot Bianca Maria?
Ich biete nur eine kleine Auswahl, bei der ich aber doch meine, eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Tarotbild feststellen zu können. Es ist vor allem eine Lippenform, die man landläufig als „Kirschenmund“ bezeichnet, und es sind auch die kurzen Haare, eine sehr hohe Stirn sowie die auffällig hoch stehenden Augenbrauen.
Wäre es denkbar, dass er sich mit dieser Karte dafür ein wenig erkenntlich zeigen wollte? Auf jeden Fall war Bianca Maria so wichtig, dass es eine große Menge künstlerischer Darstellungen von ihr gibt (auch als Heilige oder Madonna, letztere gewissermaßen als schützende „Landesmutter“).
Die Wagenlenkerin im Visconti Tarot
Ausschnitt aus der "Mda. del Parto"
Den fast unwiderlegbaren Beweis habe ich mir allerdings für den Schluss aufbehalten.
Es handelt sich laut www.kleio.org eindeutig um Bianca Maria Sforza als „Königin der Stäbe“ aus dem Visconti-Sforza-Tarot, der Bonifacio Bembo (* um 1420 in Brescia; † um 1480), einem norditalienischen Maler der Frührenaissance (15. Jahrhundert), zugeschrieben wird. (Ich bin ziemlich überzeugt, dass Bianca Maria auch noch auf anderen Karten des Visconti-Sforza-Tarots abgebildet ist.)
Neuplatonischer Symbolismus im Visconti Sforza Tarot
Den neuplatonischen Symbolismus des Tarots soll Bonifacio Bembo der Bekanntschaft mit Georgios Gemistos Plethon (um 1355 bis 1452) verdankt haben. Dieser war ein griechischer Philosoph in der Tradition des Platonismus. Seine Jugend verbrachte er vorwiegend in Konstantinopel. (Ich folge dem Wikipedia-Artikel über Gemistos.)
Zeitweilig hat er sich im osmanischen Reich aufgehalten. In Adrianopel (heute Edirne), wo sich damals der Hof des Sultans befand, soll sein Lehrer ein ansonsten unbekannter, angeblich averroistischer jüdischer Gelehrter namens Elischa (Elisaios) gewesen sein.
Wie herrlich wäre es für alle am Tarot Interessierten, viel mehr darüber zu wissen, was aus Gemistos' Lehren in Bonifacio Bembos Visconti-Sforza-Deck einfloss.
Der Künstler Bonifacio Bembo und seine Porträts am Hof der Herzöge von Mailand
Bembo ist noch dem gotischen Stil verbunden, verarbeitet aber Einflüsse der Frührenaissance. (Damit wäre er sozusagen ein ganz später Nachfolger von Giotto und Duccio; siehe oben).
Er malte die Fresken in der Kirche Sant’Agostino in Cremona und schmückte auch die herzogliche Kapelle im Schloss der Herzöge in Mailand und (gemeinsam mit zwei Kollegen) im Schloss von Pavia aus.
Bembo ist natürlich auch durch Porträts am Hof der Herzöge von Mailand bekannt.
Bembos Porträt des Francesco Sforza (um 1460) Dieser bestand darauf, mit jenem alten Hut gemalt zu werden, den er als Condottiere getragen hatte.
Bianca Maria Sforza: um 1462
In der Mailänder Pinacoteca di Brera sind die erhaltenen Bildnisse des Herzogs von Mailand Francesco Sforza und eben auch dessen Frau Bianca Maria Visconti aus dem Jahr 1462 zu besichtigen.
Francescos Porträt beweist, dass er wohl auch als Staatsmann nie aufgehört hatte, sich als Feldherr (Condottiere) zu fühlen, als der er mit genialen Strategien brillierte, aber sicher auch auf seine Körperkraft stolz war (er war berühmt dafür, Metall mit bloßen Händen zu biegen, was ihm gewiss bei den ihm unterstellten rauen Landsknechten großen Respekt eintrug).
Francesco wird auch mehrfach in Machiavellis „Il principe“ (Der Fürst) erwähnt; er wird durchgängig gelobt für seine Fähigkeiten als Regent, aber auch als Warnung vorgeführt, sich nicht mit Söldnertruppen abzugeben. Im Auftrag seines Sohnes Ludovico Sforza war kein Geringerer als Leonardo da Vinci ab etwa 1489 mit Planungen zu einem monumentalen Reiterstandbild Francesco Sforzas beschäftigt, das aber nicht zur Ausführung kam. In welche geistige und kulturgeschichtliche Welten entführt uns dieser Tarot!!!
Bianca Maria Visconti
Nun aber zurück zu unserer Hauptperson, Bianca Maria. Ihr Porträt entstand sechs Jahre vor ihrem Tod.
Trügt mein Eindruck, oder ist der jugendliche Schmelz (wie auf den Madonnenbildern oder eben auch auf Tarotkarten) einer Matronenhaftigkeit gewichen? Es wäre beileibe kein Wunder!
Sie hatte zwischen 1444 und 1458 nicht weniger als 9 Kinder geboren. Und dann lastete plötzlich unglaublich viel Verantwortung auf ihr, denn 1462 erkrankte Francesco Sforza schwer an Gicht und Wassersucht. Während seiner Erkrankung sorgten Bianca Marias Fähigkeiten in Politik und Verwaltung dafür, dass der Staat nicht durch von Venedig angestachelte Rebellionen zerfiel. Als Regentin agierte Bianca Maria sehr wirkungsvoll.
Das größte Problem für Bianca
Maria war in dieser Zeit aber ihr ältester Sohn, Galeazzo Maria, dessen instabiler und tückischer Charakter ihr viele Sorgen bereitete. Gleichzeitig willensstark und entscheidungsfreudig, zeigte er aber sehr schnell Züge von Grausamkeit und Sadismus. So verurteilte er beispielsweise einen Geistlichen zum Hungertod, weil dieser ihm eine nur kurze Regierungszeit vorhergesagt hatte. Ist das eigentlich auch ein Beweis, dass man am Mailänder Hof (bei aller auch vorhandenen Frömmigkeit – siehe die zahlreichen Darstellungen der Bianca Maria als Madonna) schicksalsgläubig war und z.B. fest an Prophezeiungen und Wahrsagerei glaubte, sodass man auch einen Tarot zur Hand haben wollte?
Sohn Galeazzo Maria
Galeazzo war auch für seinen wollüstigen Charakter bekannt: Er kaufte Frauen und Mädchen, die er danach an seine Höflinge weitergab. Einem Mann ließ er aus krankhafter Eifersucht die Hände abhacken. Er umgab sich mit Geliebten, die auch Einfluss auf ihn ausübten. Prompt wurde er 1476 ermordet im Rahmen einer Verschwörung, die möglicherweise der Gelehrte und Galeazzos Lateinlehrer Cola Montano mit angezettelt hatte, den er öffentlich hatte auspeitschen lassen. Auch die anderen Attentäter hatten gewichtige Gründe, einer, weil er in einem Streit um Pachtland vom Herzog übel übervorteilt worden war, ein anderer, weil seine Schwester von diesem vergewaltigt worden war.
Und noch immer sind wir nicht fertig. Unter Galeazzos Nachkommenschaft befand sich auch eine Tochter, die er zu Ehren seiner Mutter ebenfalls Bianca Maria nannte. Ihre Großmutter, also unser Visconti-Sforza-Tarot-Modell, wäre wohl sehr stolz auf diese ihre Enkelin gewesen, hätte sie es noch erlebt, dass diese 1493 mit dem damaligen König und späteren Kaiser Maximilian I. (genannt: „der letzte Ritter“) vermählt wurde, nachdem dessen erste Gattin, die Tochter Karls des Kühnen, bei einem Reitunfall tragisch ums Leben gekommen war.
Es ist völlig legitim, dass die modernen Freunde des Tarots vor allem etwa seit einem Jahrhundert diesen so schätzen wegen seinen esoterischen, spirituellen und divinatorischen Qualitäten, als Basis für wertvolle, im besten Falle auch psychologisch untermauerte Beratung, Beantwortung individueller Fragen an Kreuzwegen des Lebens, Suche nach einem tieferen Verständnis des eigenen Selbst, Aufzeigen zukünftiger Entwicklungs-Tendenzen etc. etc.
Abschließende Bemerkungen
Was ich freilich nie für möglich gehalten hätte, dass ein Deck wie das vom Visconti-Sforza-Hof auch die frappierende Macht besitzen würde (zumindest über mich), dass ich jetzt schon seit Stunden nachgeforscht und schließlich diesen Essay geschrieben habe – über den historischen, kulturgeschichtlichen Umkreis, aus dem es kommt.
© Gerhard Baumann | 8. Oktober 2024
Quellen: Wikipedia und Bilder: https://www.kleio.org/de/geschichte/stammtafeln/vip/829/?gallery#5223
Meine Freude als ehemals auch wissenschaftlich Tätiger über diese Entdeckung war vorgestern riesengroß. Als ich jetzt freilich diesen Text tippte, kam siedend heiß die Ernüchterung, denn ich hatte nicht daran gedacht, dass es doch sicher zu diesem Tarot auch Fachliteratur gibt, die wahrscheinlich längst zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen sein könnte.
Macht nichts. Wenn es so sein sollte, kann man mich wenigstens sicher nicht eines Plagiats beschuldigen. Und manchmal macht es ja auch Spaß, das Rad noch einmal zu erfinden, oder Eulen nach Athen zu tragen.
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Kommentare
Lieber Gerhard, chapeau, definitiv die beste Abhandlung die ich je dazu gelesen habe. Ich hoffe, dass Du weiter die Welt des Tarots bereicherst. Beste Grüße Gregor
Lieber Gregor, Deine lieben Worte haben mich ganz außerordentlich gefreut! Ich habe sehr viel Freude, mich einfach auch durch die Bilder der Karten inspirieren zu lassen, und kann versprechen, dass ich damit weitermachen werde, solange mein Hirn mitmacht! Liebe Grüße. Gerhard