Der "Held" im Kinder Tarot

Anmerkungen von Anna Rathkolb

Ich mag dieses leider sehr selten gewordene Kartenspiel und ganz besonders diese Darstellung des "Wagens" im Tarot.

Die beiden Esel des Gespanns stehen symbolisch für unsere oft zwiegespaltene menschliche Natur. Der weiße Esel ist die Tendenz in uns, die alles richtig machen will, während der braune Esel jene Tendenz in uns ist, die wir gewöhnlich als unseren "inneren Schweinehund" bezeichnen.

Dieser braucht besondere Zuwendung und wie ihr seht, weiß das der Wagenlenker auf dem Bild. Er hält dem Esel die Karotte vor die Nase, um ihn zu motivieren weiter zu gehen und nicht stehen zu bleiben.

Ist das nicht ein entzückendes Bild? Wie oft kommt es vor, dass wir uns die Karotte vor die Nase halten müssen, um unsere innere Bequemlichkeit zu überwinden? Manchmal freut es uns nicht, oder wir sind müde. Vielleicht sind wir manchmal auch einfach nur demotiviert, enttäuscht oder haben einfach nur keine Lust oder Lust auf etwas anderes, wollen ausbrechen aus der Routine und einfach mal was anderes tun.

Und damit wir nicht auf Abwege geraten, uns "verzetteln" oder stagnieren, braucht es die "Karotte", die richtige Motivation - ich liebe diesen Wagenlenker, seit ich ihn zum ersten mal entdeckt habe 

Eine Rezension von Gerhard Baumann

Eigentlich wäre der Charakterisierung dieser Karte durch Anna wirklich nichts mehr hinzuzufügen. Was ich hier noch schreibe, sind daher lediglich Konnotationen zu den Themen Kind und Esel, die bei mir zu behalten, ich wieder einmal nicht schaffe. Wie nennt man eigentlich so einen Drang? „Gonorrhoe“ vielleicht? :-)

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Das Bild auf dieser Tarotkarte erfüllt mich mit grenzenlosem Optimismus.

Es ist nämlich eine uralte Tradition, dass künftiges Heil von einem Kind ausgehen würde! So prophezeite etwa der bedeutende römische Dichter Vergil in seiner 4. Ekloge die Geburt eines Kindes, mit dem das brutale eiserne Zeitalter enden und wieder ein goldenes anbrechen würde. Man glaubte nämlich an eine zyklische Abfolge der Äonen.

Wenn man annehmen konnte, dass ein katastrophaler Tiefpunkt erreicht sei, dass es schon nicht mehr schlimmer kommen könnte, dann würde sich durch einen Retter, einen Erlöser, alles wieder zum Guten wenden. (Etwa nach dem herrlichen Diktum Hölderlins: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“.)

Auch eine Weissagung aus den Sibyllinischen Büchern sprach von einem neuen Zeitalter, das mit der Geburt eines Kindes anbrechen würde. Mit seinem Heranwachsen werde dann wieder zwischen den Menschen und in der Natur Gerechtigkeit und Frieden anbrechen.

Und die damaligen Zeiten waren wirklich chaotisch. Das römische Reich stand unter Schock nach der Ermordung Caesars. Die Meinungen über die Tat waren gespalten. Ganze Städte gaben den Mördern recht, oder verdammten sie.

Ein neues Triumvirat verfolgte die Täter, spaltete sich aber auch wieder auf, bis es schließlich Octavi(an)us, der in der Folge Augustus genannt wurde, gelang, die Ordnung wieder herzustellen und eine legendäre Friedensperiode einzuleiten („Pax Augusta“).

Das christliche Mittelalter deutete freilich Vergils Prophezeiung dahingehend um, dass der Dichter die Geburt Christi vorausgeahnt habe.

Wunderkinder, Götter und ihre Kindheit

Es geht weit über jegliche reale Erfahrungen hinaus, was die Mythen über die Kindheit von Göttern und die Märchen von „Wunderkindern“ zu erzählen wissen. Als Beispiel für ersteres sei an den „Homerischen Hymnus an Dionysos“ erinnert.

„Jugendlich-frisch“ erscheint der Gott am Meeresstrand. Da taucht ein Seeräuberschiff auf. Da die Piraten ihn für einen Königssohn halten, für den man ein hohes Lösegeld fordern könnte, zerren sie ihn an Bord und wollen ihn fesseln. Doch gleich fallen die Bande ab, obwohl er nur da saß „und lächelte mit den bläulich-schwarzen Augen“. Da ging dem Steuermann ein Licht auf, und er mahnte seine Gefährten:

Homerischer Hymnus an Dionysos

"Ihr Besessenen! Welchen Gott fesselt ihr? Welchen Starken fasst ihr?Nicht einmal das festgefügte Schiff kann ihn tragen! …Nicht ist er den sterblichen Menschen gleich, den Göttern viel mehr, die olympische Häuser bewohnen.

… Lasst uns sofort aufs schwärzliche Festland ihn bringen, unverzüglich! Packt ja ihn nicht an, damit er nicht zornig widrige Winde zusammenballe und vielfache Stürme!" So sprach er.

Da schalt ihn mit hässlicher Rede der Schiffsherr: "Du Besessener! Sieh den Fahrtwind! Setz schon die Segel! Alle Taue gepackt! Um den kümmern sich dann die Männer! 

Bald, hoffe ich, wird er nach Ägypten oder auch Zypern oder nach Norden und weiter hinaus noch gelangen. Am Ende wird er die Freunde und allen Besitz, seine Brüder verraten, denn den hat uns ein Göttergeschick in die Hände geliefert!"       

Sprach's und zog den Mast empor und das Segel des Schiffes. Wind fuhr hinein und blähte das Segel, man straffte die Taue allseits. Bald schon erschienen ihnen doch seltsame Dinge: Wein zuerst überströmte das schwarze Schiff, das geschwinde, lieblich süß, wohlriechend, es quollen ambrosische Düfte; all die Matrosen, sobald sie es sahen, erstarrten vor Staunen; und gleich breitete sich vom Segel ganz oben ein Weinstock
hierhin und dorthin und überall aus; daran hingen in Fülle
Trauben, und um den Mastbaum kletterte schwärzlicher Efeu,
blühte in Blumen anmutig empor, Frucht schwellte darüber;
Kränze umrankten die Ruderpflöcke.

Doch als sie dies sahen, schrien auf dem Schiffe die Männer dem Steuermann zu: "An Land, zurück!" Da wurde drinnen im Schiff ER zum Löwen, schrecklich richtete ER sich auf, laut grollte ER, schuf dann mitten im Schiff eine zottige Bärin: ER zeigt sich in Zeichen.

Sie war gierig gespannt; der Löwe jedoch über Deck hoch
blickte furchtbar zornig; ins Heck verscheucht drängten sie sich
um den besonnenen Steuermann, der seine Fassung bewahrte.
Tief entsetzt waren sie.

Da reckte sich plötzlich der Löwe hoch empor, den Schiffsherrn griff er; sie sahen's und ahnten schon ihr Ende und sprangen hinab in die göttliche Salzflut, in Delphine verwandelt.“

Den Steuermann aber begnadete er und gab sich ihm als donnernder Dionysos zu erkennen, göttliches Kind von Zeus und Semele.

Also, das kann man eine Epiphanie nennen, in 3D und Cinemascope, was der große Homer hier in eine Hymne an Dionysos gegossen hat!

Herakles, der Sohn des Zeus und der Alkmene

Unbedingt erwähnen muss ich freilich auch Herakles. Er war der Sohn des Zeus und der Alkmene, welcher der Göttervater mit seiner üblichen Betrugsmasche in Gestalt ihres Gatten Amphitrion erschien, der in der Realität freilich auf einem Rachefeldzug unterwegs war.

Das Produkt dieses göttlichen amourösen Abenteuers war eben der Halbgott Herakles/Herkules, von dessen unbezwingbarer Stärke wohl schon die meisten einmal etwas gehört haben dürften, auch wenn sie seine zwölf Heldentaten sicher nicht lückenlos aufzählen könnten (ich übrigens auch nicht!).

Verständlicherweise war auch diesmal Hera über diesen Seitensprung ihres Gatten „not amused“ und verfolgte Herakles, so lange er lebte, mit abgrundtiefem Hass. Das begann schon damit, dass die Göttin, als er nur wenige Monate alte war, zwei riesige Schlangen in sein Kinderzimmer sandte. Für das halbgöttliche Kind freilich kein Problem, da er die beiden Ungeheuer einfach kurz entschlossen erwürgte.

Herakles mit einer Schlange, Werk aus dem 2. Jahrhundert in den Kapitolinischen Museen in Rom.


Stephen Reid: Illustration von Eleanor Hull, „The Boys' Cuchulain“ (1904)

Ein irischer Held

Auch Irland hat einen überragenden Helden, CúChulainn [sic!]. Bereits als Fünfjähriger besiegt er eine „dreimal fünfzigköpfige“ Knabenschar in allen ihren Wettkämpfen „sozusagen mit links“. Und auch noch im Kindesalter zerschmettert er einen gewaltigen, bösartigen Hund. Natürlich kann man auch bei ihm ins Treffen führen, dass ein Gott ihn gezeugt hat.

Ein finnisches Wunderkind

Auch das finnische Nationalepos „Kalevala“ kennt ein erst zwei Wochen altes, auf übernatürliche Weise entstandenes Kind („Kiesus“), das sich als stärker erweist, als der bis dahin alles dominierende heldenhafte, alte und weise Halbgott Väinämöinen, der danach aus der Welt der Sterblichen fortsegelt.

Hier, auf diesem mit Tempera bemalten Gewebe (1908/10) von dem finnischen Maler Joseph Alanen (1885-1920) hält das Kind dem alten Väinämöinen alle seine früheren Untaten vor:

Der sagenumwobene Berg Bogatin in Slowenien (Foto: Stanko Dolenšek

Die Alpensage "Zlatorog" von Rudolf Baumbach

Wir machen einen gewaltigen geografischen Sprung. Der Dichter Rudolf Baumbach goss unter dem Titel „Zlatorog“ 1882 eine Alpensage in eine edle literarische Form und entführt uns ins Märchenreich der wunderbaren Julischen Alpen. Der Schluss des Versepos setzt wieder auf ein Glückskind, dem es einzig gelingen kann, später die verborgenen Goldschätze zu heben:

„Es gibt im Hochgebirg noch manchen stillen, versteckten Ort, den nie ein Mensch betreten.

Der gold'ne Hort im Berge Bogatin ist bis auf diesen Tag noch nicht gehoben.

Nach siebenhundert Jahren aber wächst im Felsenmeer des Triglav eine Tanne,

Und aus dem Holze des erwachsenen Baumes wird man zu einer Wiege Bretter sägen,

Und in der Wiege wird der Knabe liegen, der einst gelangt zum Schatz im Bogatin.“

Wahrsagen im alten Italien

Kinder ziehen Lose

Machen wir nun auch noch einen Abstecher zur Weissagekunst, geschätztes Gebiet im Tarot. Ich gehe freilich in die Antike hinunter und zum Orakelwesen. Gewiss denken wir hier in erster Linie an Delphi und die dortige prophezeiende Priesterin Pythia.

Ich möchte hier aber themenbezogen zeigen, dass auch ein Kind diese Funktion hervorragend erfüllen konnte.

Ansicht des Tempels der Fortuna Primigenia in Palestrina von Domenico Castelli nach der Rekonstruktion von Pietro da Cortona (Praenestes antiquae libri duo. Rom 1655) und Blicke auf die Reste der Anlage.

Wir beamen uns zeitlich weit hinunter zum „Heiligtum der Fortuna Primigenia“, einem religiösen Komplex in Praeneste, dem heutigen Palestrina, 35 km östlich von Rom, ursprünglich eine Weihestätte, zu der Eltern mit ihrem neugeborenen ersten Kind pilgerten, in der religiösen Überzeugung, damit dessen Überlebenschancen erhöhen zu können.

Dann aber kam der Diktator Lucius Cornelius Sulla an die Macht, der von Natur aus sehr schicksalsgläubig war. Er gab um etwa 80 v. Chr. die Monumentalisierung des Heiligtums in Auftrag, als Dank an Fortuna für seinen Sieg über Gaius Marius, den berühmten römischen General und siebenmaligen Konsul.

Aus dieser Zeit stammen auch die noch heute erhaltenen imponierenden Reste der heiligen Stätte. Sie erstreckte sich einst über fünf riesige Terrassen, die auf mächtigen Unterbauten aus Mauerwerk ruhten und durch große Treppen miteinander verbunden waren.

Den höchsten Punkt krönte der Tempel der Glücksgöttin, der heute in den Palazzo Colonna Barberini integriert ist. Dieses gewaltige Bauwerk war vermutlich das bei weitem größte Heiligtum Italiens. Es muss einen äußerst eindrucksvollen Anblick geboten haben, da es von einem großen Teil Latiums, von Rom und sogar vom Meer aus sichtbar war.

Das Heiligtum war auch eine wichtige Orakelstätte, über deren legendäre Entstehung Cicero folgendes berichtet: Ein gewisser Numerius Suffustius, ein angesehener Mann, sei im Traum immer wieder aufgefordert und schließlich unter Drohungen genötigt worden, einen bestimmten Felsen zu spalten. Als er das schließlich tat, sprangen aus dem zerbrochenen Fels hölzerne Lose aus Eiche, in welche archaische Zeichen  geschnitzt waren.

Das Wahrsagen erfolgte mit Hilfe dieser Lose: Auf ein (vermeintliches) Nicken des Kultbildes hin mischte ein Knabe die Lose und wählte dann aus – ob eines oder mehrere Lose, ist nicht bekannt. Die gezogenen Lose wurden gedeutet und aufgrund dessen dem Fragesteller das Orakel mitgeteilt. Man muss sich wohl das Verfahren im Prinzip ähnlich wie beim Legen von Tarotkarten vorstellen (so wörtlich in: https://de.wikipedia.org/wiki/Praeneste).

Einerseits wurde das Orakel über triviale Belange befragt und erfreute sich insbesondere unter Frauen (wohl wegen der Bezüge zu einer Muttergottheit) großer Beliebtheit, anderseits holten sich sogar auch römische Kaiser divinatorischen Rat.

Abgeschafft wurde es schließlich unter Theodosius I., kaum verwunderlich, denn es war nicht mehr kompatibel mit der Christianisierung des Imperiums, die unter ihm einen entscheidenden Schub nach vorne erhielt.

Auch Märchen kennen die besonderen Fähigkeiten von Kindern. Ich denke da in erster Linie an den „Däumling“, den winzigsten aus einer Kinderschar. Er allein ist imstande, durch seinen Ideenreichtum und seinen Mut, seine Familie aus einer Hungersnot zu erretten, welche die Eltern grausam gemacht hatte.

Kinder sind unschuldig und manipulieren nicht

Erwähnenswert ist, dass (Waisen)kinder viel später auch da und dort für Lottoziehungen eingesetzt wurden. So beispielsweise 1716 in Hamburg bei einer Lotterie vor den Augen von Senatoren.

Auch hier bei der Preußischen Klassenlotterie um 1880 ziehen zwei Knaben die Lose aus den Trommeln. Vermutlich wurden Kinder für diese Tätigkeit ausgewählt, weil man sie für so rein und unschuldig hielt, dass sie zu keiner Manipulation fähig sein würden.

„Last but not least“, aber im Gegenteil eigentlich an vorderster Stelle, müssen hier auch „Wunderkinder“ erwähnt werden, obwohl gleich festgehalten werden sollte, dass alle Kinder ein Wunder sind, jedes auf seine Weise – sie müssen weder „Halbgötter“ oder „Genies“, noch „stark wie Stiere“ oder mutig wie „Helden“ sein.

Bildquelle: AxelHH (CC BY 3.0)

Auch ist es nicht nötig, dass Kinder über außergewöhnliche musische, sportliche oder sonstige Talente verfügen, um überaus schätzenswert zu sein.

Aber „Wunderkinder“ gibt es eben doch auch, und sie sind gewiss auch ein Trost dafür, dass nicht alles auf der Welt nivellierbar und normierbar ist, wie es manche Technokraten und Politiker so gerne sehen würden. Und Ausnahmetalente gab und gibt es in jedem Jahrhundert.

Georg Friedrich Händel

Damit dieser Abschnitt nicht zu sehr ausufert, halte ich mich lediglich an die Musik und beginne beim Barock, und zwar bei Georg Friedrich Händel. Sein Vater hätte es gerne gesehen, dass er Jurist geworden wäre, doch erkannte und förderte seine Mutter sein musikalisches Talent.

Der Widerstand des Vaters legte sich erst anlässlich eines Besuchs beim Herzog von Sachsen-Weißenfels auf Schloss Neu-Augustusburg, auf dem der Hofstaat des Herzogs seit 1680 residierte. Händel, damals noch keine acht Jahre alt, habe dort in Anwesenheit des Herzogs die Orgel gespielt. Dieser habe das Talent des Jungen sofort erkannt und den Vater überzeugt, Georg Friedrich doch unbedingt als Musiker ausbilden zu lassen.

Der Rest kann als bekannt vorausgesetzt werden, wurde aus dem Knaben doch der neben Johann Sebastian Bach bedeutendste Barockkomponist schlechthin.

Das "Wunderkind" - der Geiger Jehudi Menuhin

Ich springe nun in die jüngste Vergangenheit, um mir das berühmteste Beispiel für den Schluss vorzubehalten. Es handelt sich um den großen Ausnahmegeiger des 20. Jahrhunderts, Jehudi Menuhin (1916 – 1999).

Nach dem Unterricht bei namhaften Koryphäen begann er 1928, also mit 12 Jahren, seine erste  Konzerttournee in den Vereinigten Staaten, die bis zum März 1929 dauerte.

Im selben Jahr  bekam er von einem Mäzen die „Stradivari Khevenhüller“ geschenkt. Mit dieser gab er am 12. April 1929 sein Debüt in Berlin.

Yehudi Menuhin mit Bruno Walter, 1929 Quelle: Bundesarchiv, Bild 102-12786 (CC-BY-SA 3.0)

Er bewältigte mit den Berliner Philharmonikern unter Leitung von Bruno Walter ein enormes Programm: vor der Pause Bachs E-Dur-Konzert sowie das Violinkonzert von Beethoven, nach der Pause Brahms’ Violinkonzert – und als Zugabe den zweiten und dritten Satz des Violinkonzerts von Mendelssohn.

Albert Einstein, der selbst Violine als Dilettant spielte, saß im Publikum und sagte Menuhin nach dem Konzert, er habe soeben gelernt, dass es doch noch Wunder gebe. Im gleichen Jahr debütierte Menuhin in der Queen’s Hall mit dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Fritz Busch.

Aus dem etwas pummeligen Buben wurde eine große, schlanke und ungemein aristokratische Erscheinung, deren unvergessliche Interpretation von J. S. Bachs Solopartiten in Wien Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mir unvergesslich bleiben wird.


Mozart, das Wunderkind

Das berühmteste aller „Wunderkinder“ habe ich mir natürlich, wie schon angekündigt, bis zum Schluss aufgehoben: Wolfgang Amadeus Mozart.

Ich komme jetzt aber nicht damit daher, dass er mit fünf Jahren seine früheste Komposition schrieb, und auch nicht mit der rührenden Anekdote von der Audienz des Sechsjährigen bei Maria Theresia, bei der er mit seiner bereits vorhandenen Virtuosität auf dem Klavier den gesamten Hofstaat zu Begeisterungsstürmen hinriss, worauf dann aber doch wieder seine Kindlichkeit durchbrach, von der Vater Leopold Mozart berichtete:

"Der Wolferl ist der Kayserin auf den Schooß gesprungen, sie um den Halß bekommen, und rechtschaffen abgeküsst."

Mozart als Sechsjähriger. Der prächtige Anzug soll ihm bei der Audienz am Wiener Kaiserhof geschenkt worden sein.

Ich möchte hier vielmehr von einer noch ganz anderen, weit über Fingerfertigkeit hinausgehenden Virtuosität berichten. „Wolferl“ war vierzehn Jahre alt, als er mit seinem Vater in der Karwoche 1770 in Rom eintraf.

Wie immer hatte es viele Pilger in dieser Zeit in die Ewige Stadt gezogen. Die Kunstbeflissenen unter ihnen versäumen es nicht, die Sixtinische Kapelle aufzusuchen, um der ernsten Feierlichkeit der Tenebren, der dunklen Metten, beizuwohnen.

Die hohe Geistlichkeit, ja selbst der Papst knieten mit entblößtem Haupt auf dem Boden. Nach jedem Gebet wurde eine Kerze in der Kirche ausgelöscht, bis es stockfinster war. Und nun stimmten neun Sänger, verteilt auf zwei Gruppen, einen feierlich klagenden Gesang an, den 51. Psalm: das "Miserere", von dem einstigen päpstlichen Kapellsänger Gregorio Allegri etwas mehr als eineinviertel Jahrhunderte zuvor komponiert. Auch Mozart senior und junior sind unter den Ergriffenen.

Nun muss man wissen, dass diese Kirchenmusik ein vom Vatikan ganz streng gehüteter Schatz war. Nur allerhöchste Personen wie der König von Portugal oder Kaiser Joseph II. wurden ausnahmsweise mit einer Abschrift beschenkt. Normalsterblichen aber war das Kopieren unter Androhung der höchsten Kirchenstrafe, der Exkommunikation, verboten.

So etwas konnte einen Wolfgang Amadeus nicht schrecken, er benötigte keine Vorlage, um – ins römische Quartier zurückgekehrt – die komplizierte Komposition sofort aus dem Gedächtnis niederzuschreiben, wobei ihm irgendwelche Kleinigkeiten noch fehlerhaft vorkamen, sodass er sich am nächsten Tag gleich noch einmal in die Sixtina begab, um dann die Korrekturen vorzunehmen.

Leider ist Mozarts eigenhändige „Piraten-Abschrift“ nicht mehr erhalten. Kurios ist, dass er später für diesen „geistigen Diebstahl“ nicht bestraft, sondern von einem gar nicht engstirnigen Papst mit dem vatikanischen „Orden vom Goldenen Sporn“ ausgezeichnet wurde.

Als sehr stimmungsvoll könnte ich die Aufnahme mit dem  Choir of Clare College Cambridge empfehlen 

Meiner Meinung nach passt das Kapitel „Wunderkinder“ recht gut zu dem gerade in den „Ernst des Lebens“ aufbrechenden Tarot-„Helden“-Kind, dem neben Glück und Erfolgen auch Rückschläge, Enttäuschungen, Zusammenbrüche, „Freud' und Leid“ eben, nicht erspart bleiben werden. Und so erging es ja tatsächlich auch allen drei von mir erwähnten „Wunderkindern“.


Georg Friedrich Händel

Georg Friedrich Händel musste erleben, dass seinem zunächst so erfolgreichen Opernschaffen ein eklatanter Niedergang folgte. Zu immer größeren finanziellen Schwierigkeiten wegen einer Anhäufung von stark überhöhten Gagen kam, dass sich der Publikumsgeschmack zunehmend leichteren und politisch-satirischen auf Englisch (und nicht italienisch) gesungenen Musikdarbietungen zuneigte, wofür 1728 der rauschende Erfolg von John Gays und Johann Christoph Pepuschs „The Beggar’s Opera“ symptomatisch war, in der sogar Händel parodiert wurde. (Die Oper stand übrigens Modell für die „Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill.)

Zum Glück war der finanzielle Schaden für Händel überschaubar, und künstlerisch wandte er sich nun dem Oratorium zu, da auch seine weiteren Opernunternehmungen nicht von Erfolg gekrönt waren. So entstand zum Glück sein bis zum heutigen Tag wohl berühmtestes Werk, der „Messias“.

Jehudi Menuhin

Auch das „Wunderkind“ Jehudi Menuhin, musste erleben, wie es sich anfühlt, wenn man plötzlich – wenn auch nur für eine gewisse Zeit – „weg vom Fenster“ ist. Nachdem er sich 1935 mit einer Welttournee durch Australien, Neuseeland, Südafrika und Europa mit 110 Konzerten in 72 Städten völlig ausgepowert hatte, musste er danach eine Auszeit von eineinhalb Jahren nehmen.

Das Wunderkind-Phänomen war in sich zusammengebrochen, Menuhin konnte nicht mehr so spielen wie zuvor und musste einen neuen Zugang zu seinem Instrument finden.

Von neuem beginnt er zu lernen und kehrt – jetzt aber ohne jemals wieder ein Burnout erleben zu müssen – zurück auf die Podien der Welt, und dies nicht nur als einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts, denn im Laufe seines Lebens gründet Yehudi Menuhin auch zahlreiche soziale Einrichtungen, Festivals und andere Initiativen.

Er erhält Auszeichnungen und Preise und wird schließlich sogar von Königin Elisabeth II. in den Adelsstand erhoben. Lord Yehudi Menuhin bleibt unvergessen – als Geiger und Dirigent, vor allem aber auch als Missionar der Humanität.

Wolfgang Amadeus Mozart

Mozarts Lebensweg ist zumindest in groben Zügen wohl so bekannt, dass man über die von ihm erlebten schicksalhaften Wellen-Kämme und -Täler eigentlich nicht viele Worte verlieren müsste.

Nur stichwortartig ein Ausschnitt zur Erinnerung. Ist er jemals über seine ganz große, aber verschmähte Liebe zu Aloysia Weber hinweggekommen? War Constanze Weber wirklich ein vollkommener Ersatz für ihre Schwester?

Wie hat er die lebenslangen Spannungen mit seinem Vater ertragen? Wie ist sein zukunftsweisendes Genie in Zusammenhang mit seinem Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ zurecht gekommen mit dem versteckten Tadel des ihm sonst durchaus recht wohlwollend gegenüberstehenden Joseph II., dessen Musikgeschmack aber über Konventionelles nicht hinauskam:

„Zu schön für unsere Ohren und gewaltig viel Noten, lieber Mozart."

Worauf dieser wenigstens selbstbewusst entgegnete:

„Gerade so viel Noten, Euer Majestät, als nötig sind."

Viel tiefer mag freilich die Verstimmung des Wiener Adels über Mozarts Oper „Figaros Hochzeit“ gegangen sein, was freilich kein Wunder war bei der radikal revoluzzerischen literarischen Vorlage Beaumarchais' und der zeitgleichen Französischen Revolution.


War Mozart arm oder reich?

Uninformierte bedauern freilich immer noch am meisten, dass  Mozart ständig an der Armutsgrenze entlangschrammen musste. Dies ist allerdings schon längst widerlegt. Da war er nämlich selbst seines Unglückes Schmied. Er war zu manchen Zeiten durchaus ein Spitzenverdiener und kein armer Schlucker. Sein Einkommen belief sich auf das Doppelte als bisher angenommen.

Die internationale Forschung hat nämlich in jahrelanger akribischer Arbeit herausgefunden, dass Mozart bis zu umgerechnet 150.000 Euro im Jahr bekam (das waren 5.000 Gulden), doch er verprasste das Geld. Allein 17 Prozent gab er für Trinkgelage aus – und da waren noch ein Reitpferd, die Spielsucht und das Verlangen nach teurer modischer Kleidung.

Ein Vergleich macht sprachlos: Joseph Haydn (in finanziellen Belangen durchaus kein „Gimpel“) bekam bis 1790 ein Jahresgehalt von 2000 Gulden, ein damaliger Universitätsprofessor 300, ein Schulmeister 22 und Mozarts Dienstmädchen gar nur 12 Gulden.

Ich kann mir nicht helfen, aber beim Schreiben dieser Zeilen musste ich gerade an das wunderbare, von Robert Schumann unter dem Titel „Frühlingsfahrt“ (Op. 45, Nr.2) kongenial vertonte Gedicht „Die zwei Gesellen“ von Joseph von Eichendorff denken:

Die zwei Gesellen (der ganze Text zum Aufklappen)

Es zogen zwei rüst’ge Gesellen
Zum erstenmal von Haus,
So jubelnd recht in die hellen,
Klingenden, singenden Wellen
Des vollen Frühlings hinaus.

Die strebten nach hohen Dingen,
Die wollten, trotz Lust und Schmerz,
Was Rechts in der Welt vollbringen,
Und wem sie vorübergingen,
Dem lachten Sinnen und Herz. –

Der erste, der fand ein Liebchen,
Die Schwieger¹ kauft’ Hof und Haus;
Der wiegte gar bald ein Bübchen,
Und sah aus heimlichem Stübchen
Behaglich ins Feld hinaus.

Dem zweiten sangen und logen
Die tausend Stimmen im Grund²,
Verlockend’ Sirenen, und zogen
Ihn in der buhlenden Wogen
Farbig klingenden Schlund.

Und wie er auftaucht’ vom Schlunde,
Da war er müde und alt,
Sein Schifflein das lag im Grunde,
So still war’s rings in die Runde,
Und über die Wasser weht’s kalt.

Es singen und klingen die Wellen
Des Frühlings wohl über mir;
Und seh ich so kecke Gesellen,
Die Tränen im Auge mir schwellen –
Ach Gott, führ uns liebreich zu dir!

Unter den vielen Aufnahmen gefällt mir die von Dietrich Fischer-Dieskau, am Klavier begleitet von Gerald Moore am besten.

Die beiden Eseln

Auch beim Anblick des „Helden“ auf der Kinder-Tarot-Karte VII denke ich mir insgeheim: „Ach Gott, führ ihn liebreich zu dir!“

Ich denke, das könnte nun der richtige Augenblick sein, uns den nächsten Highlights dieser Karte zuzuwenden: den Eseln.

Niemand sollte „Esel“ als Schimpfwort verwenden, denn nur wenige Tiere wurden so sehr verkannt und so vielen Vorurteilen ausgesetzt. Damit ich nicht auf ein anderes – in diesem Fall positives – Vorurteil hineinfalle, wollte ich mich vorsichtshalber im Internet auf verlässlichen Seiten kundig machen.

Herausgekommen ist: Esel sind klug: Ihre scheinbare Sturheit ist vielmehr ein Abschätzen gefahrvoller Situationen. Statt wie ein Pferd mit dem Fluchtinstinkt zu reagieren, bleibt der Esel stehen und wägt die Lage ab. Weil bei ihren wild lebenden Vorfahren jede unnötige Verausgabung oder auch eine kleine Verletzung tödlich enden konnte, ist das Stehenbleiben kein Zeichen von Bockigkeit, sondern eine kluge Anpassung an einen heißen, trockenen und oft auch steinigen oder wüstenartigen Lebensraum. Auch können in einer solchen Umgebung sich bewegende Beutetiere von Fressfeinden schneller wahrgenommen werden. Das angeborene Zögern spricht unter solchen Verhältnissen wohl nicht für Dummheit, sondern für Intelligenz.

Dass sie so aufmerksame Lebewesen sind, macht sie auch auf den gefährlichsten Wegen zu verlässlichen und trittsicheren Tragtieren. Eine Eignung, die noch durch große Kraft, Ausdauer und besonders gestaltete Hufe verstärkt wird. Außerdem haben Esel ausgeprägt scharfe Sinnesorgane (Ohren, Augen, Nase), die ihnen als Frühwarnsystem bei Gefahr durch potentielle Gegner wie Raubtiere dienen. So liefern ihnen ihre seitlich liegenden Augen eine fast komplette Rundsicht, und sie sehen auch bei Dunkelheit besser als die Menschen. Auch hören können sie kilometerweit (lange „Eselsohren“). Durch ein hervorragendes Gedächtnis (sie können sich oft an Orte und Wege erinnern, an denen sie schon einmal waren) verfügen sie im Lauf ihres Lebens auch über einen reichen Erfahrungsschatz.

Auch untereinander zeichnen sie sich durch ihr geselliges Sozialverhalten aus. Am liebsten leben sie in Gruppenverbänden und sollten daher auch nicht alleine gehalten werden. Sie schließen sogar untereinander Freundschaften und sind sich gegenseitig bei der Fellpflege behilflich.

Rembrandt van Rijn, 1626

Wie schön, dass unser Kindertarot-“Held“ noch eine so reine Seele hat, dass er auch den dunklen, widerspenstigen Esel nie schlagen würde, sondern die „sanfte Gewalt“ der vom Esel geliebten Karotte einsetzt, um ihn (und sich) auf der richtigen Bahn zu halten.

Kinder und Esel können überhaupt gut miteinander. Das wissen auch Experten, die in der „tiergestützten Therapie“ tätig sind.

Das vorurteilbehaftete Andichten schlechter Eigenschaften ist also eher dem Unwissen ihrer Besitzer geschuldet. Das spricht nicht gerade für den Menschen, gehört doch der Esel zu den ältesten Haustieren, denn er wurde vor etwa 4000 bis 5000 Jahren vermutlich in Ägypten domestiziert.

Viel zu viele Tiere wurden aber im Laufe ihrer Existenz wegen der obgenannten Vorurteile furchtbar misshandelt, verprügelt, gepeitscht und getreten, obwohl sie im Recht waren – und ihr Verhalten manchmal nicht nur in Übereinstimmung mit ihrer Lebensart gerechtfertigt war, sondern auch dem Wohl ihrer Peiniger gedient hätte.

Bileams Esel

Davon berichtet schon eine Geschichte aus dem „Alten Testament“, 4. Buch Mose (Numeri), 22 – 24, bekannt unter „Bileams Esel“. Die Geschichte ist recht kompliziert und würde ungekürzt hier zu viel Raum einnehmen. Daher nur zum Wesentlichsten.

Die Israeliten ziehen auf ihrer Flucht aus Ägypten gerade durch die Wüste und lagern beim Königreich Moab. Dessen König, Balak, wird nervös. Er schickt Boten zu dem mächtigen Propheten Bileam. Dieser möge zu ihm kommen, um die Israeliten zu verfluchen, auf dass er sie militärisch besiegen könne. 

Dieser möchte zuvor jedoch den Willen Jehovas erkunden, der natürlich dieses gegen sein auserwähltes Volk gerichtetes Ansinnen verurteilt und Bileam zurückhält. Doch hat anscheinend auch jeder noch so hellsichtige Prophet seinen Preis.

Balak stellt Bileam ständig noch reichere Belohnungen und höhere Ehren in Aussicht, bis dieser nachgibt und zu einem Treffen mit dem Machthaber aufbricht. Das erregte nun Jehovas gewaltigen Zorn. Er entsendet einen Engel mit erhobenem Schwert, den aber nur Bileams Esel sehen konnte.

Der Bote Gottes versperrt dem Propheten und seinem Reittier zwei Mal den Weg, worauf Bileam die arme Kreatur mit seinem Stock verprügelt. Beim dritten Mal gibt es überhaupt keine Möglichkeit mehr, dem Engel auf dem schmalen Gebirgspass auszuweichen. Der Esel geht unter Bileam in die Knie. Als er das Tier zum dritten Mal schlägt, ließ Gott den Esel sprechen:

„Was habe ich dir getan, dass du mich jetzt schon zum dritten Mal schlägst?“

Bileam wirft dem Esel vor, dass er ihn verhöhne, und dass er ihn töten würde, wenn er ein Schwert dabei hätte. Darauf öffnet Gott auch ihm die Augen und lässt ihn den Engel mit seinem Schwert sehen. Bileam erkennt, dass er gesündigt hatte. Daher geht die Geschichte, die sich noch länger hinzieht, schließlich gut aus. Bileam segnet die Israeliten, statt sie zu verfluchen.


Mit Bileam befanden wir uns im „Alten Testament“, und da erinnerte ich mich konsequenterweise an wichtige Stellen aus dem „Neuen Testament“, in dem der Esel stets so positiv in der Umgebung Jesu vorkommt.

Ich denke dabei natürlich zuerst gleich an die Stallgeburt Christi mit dem Esel und dem Ochsen an der Krippe. Gelehrte Theologen hatten seit jeher gescheite Deutungshypothesen für die in dieser Szene enthaltene Symbolik parat.

Meine natürlich keinesfalls relevante Assoziation dazu habe ich darunter verständlicherweise nicht gefunden. Mir war allerdings aufgefallen, dass nicht nur der Esel so häufig schlecht behandelt wird, sondern auch der Ochse.

Er ist das älteste Zugtier. Das bedeutet, dass er schon vor fünfeinhalb Jahrtausenden kastriert wurde, um dadurch mehr kräftige Muskelmasse als Kühe aufzubauen, aber die Wildheit eines Stiers abzulegen. So konnte er am besten unter ein Joch gespannt werden. Auch für das „Austreten“ von Getreide musste er im alten Orient bis zum Umfallen im Kreis gehen.

Ein Skandal ist freilich, dass der geizige Mensch ihm offensichtlich nicht einmal genügend Futter gönnte. Denn im „Alten Testament“ (5. Mose, 25,4) lesen wir das Gebot, dass dem Ochsen, der Korn austrat, nicht der Mund verbunden werden sollte, d. h. nicht zu verhindern, dass er ein wenig von dem von ihm auf dem Boden ausgetretenen Getreide selbst fraß.

Und so meine ich naiv, dass nicht umsonst die beiden ausgebeuteten und verachteten Haustiere an der Krippe stehen und meines Erachtens schon auf die Passion Christi hinweisen, wie schon Isaiah 53:1-3:

„Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, / ein Mann voller Schmerzen, / mit Pein vertraut“.

Georg Friedrich Händel hat eigentlich diese Worte durch seine Vertonung als Alt-Arie im „Messias/Messiah“ weit über theologische Kreise hinaus unsterblich gemacht:

„ He was despised, despised and rejected. A man of sorrows and acquainted wirth grief.“

Dreschen von Getreide (Ägypten, 1422–1411 v. Chr.)

Detail der Schmalseite des Sarkophags des Stilicho in Sant’Ambrogio (Mailand, um 385)

Es gibt zu denken, dass Esel und Ochs in den ältesten Krippendarstellungen alleine vorkommen, wie etwa das abgebildete Detail der Schmalseite des Sarkophags des Stilicho in Sant’Ambrogio (Mailand, um 385) beweist.

Die beiden Haustiere flankieren auf Knien anbetend Christus. Vielleicht erhofften auch sie von dem göttlichen Fatschenkind, dass seine Lehre die Menschen, und somit auch ihre Besitzer und Peiniger besser machen würde, und ihnen und ihren Nachkommen ein leichteres Dasein bevorstehen würde.

Nun ja, das hat sich leider auf der ganzen Linie  nur sehr bedingt erfüllt, aber wenigstens haben wir jetzt Tierschutzgesetze, wenn sie auch immer noch oft umgangen werden. Aber geht es auch der Menschheit um so viel besser...?

Apropos: Das Ornament auf dem Fries unter der Krippe stellt selbstverständlich kein Hakenkreuz, sondern eine „Swastika“ dar, ein uraltes, bis 10.000 v. Chr. zurückgehendes Glückssymbol, das auch apotropäische, also Unheil abwehrende Wirkung entfaltet – besonders sinnvoll in Zusammenhang mit einem Sarkophag.

Der Esel in der Darstellung

Erst ab dem 5. Jahrhundert – nach dem Konzil von Ephesos – erscheint Maria in Darstellungen an der Krippe. Ab dem 6. Jahrhundert treten dann die Tiere in den Hintergrund und die Gottesmutter und das Kind werden zum Mittelpunkt des Weihnachtsbildes.

Bald nach der Geburt Christi berichtet die Bibel von der Flucht der „Heiligen Familie“ nach Ägypten. Sie wäre in den bei extremer Hitze zu durchquerenden wüsten Landschaften ohne den Esel, der Maria und das Kind trug, unmöglich gewesen.

Bild: Dürer; 1494-97

Und dann, wenn sich der Kreis des Heilsgeschehens schließt, taucht er neuerlich auf, der Esel. Denn an jenem Tag, den wir „Palmsonntag“ nennen, reitet Christus bekanntlich triumphierend in Jerusalem ein. Die künstlerische Darstellung dieses Geschehens reicht bis ins 4. Jahrhundert n. Chr. hinunter, wie sich durch den Sarkophag des Stadtpräfekten Junius Bassus von 359 n. Chr. beweisen lässt, der heute im „Museo della civiltà romana“ in Rom zu bewundern ist.

Foto: Giovanni Dall'Orto, 12-Apr-2008.jpg

Seit dem 10. Jahrhundert fand eine weitere Verlebendigung statt, indem zuerst Bischöfe, dann auch Dorfpfarrer bei den Palmprozessionen auf einem Esel mitritten.

Da der Esel dabei nicht selten durch den Menschauflauf und den Lärm beunruhigt stehen blieb, wurde er später meist durch einen hölzernen Esel auf Rädern mit einer reitenden Christusfigur ersetzt.

An dieser überhaupt ältesten Darstellung des „Einzugs Christi in Jerusalem“ ist auf dem Steinsarg noch eine weitere Besonderheit zu bemerken. Wie im frühen Christentum üblich, ist auch hier der Erlöser noch bartlos dargestellt – gemäß der apollinischen Gottesvorstellung der Antike.

Die Zeitangaben schwanken, doch spätestens seit dem 7. Jahrhundert wird kirchlicherseits dieses einstige Geschehen in Jerusalem in einer Prozession nachgestellt, wobei grüne Zweige mitgetragen und Hymnen gesungen wurden.

Der Palmesel-Umritt

Der Palmesel-Umritt wurde vor allem zur Zeit der Aufklärung zurückgedrängt, und seine Verwendung im Rahmen der kirchlichen Feier war zeitweilig vielerorts strikte verboten. Am extremsten verhielt sich in Salzburg Erzbischof Hieronymus von Colloredo, der uns wegen seiner kurzsichtigen Streitereien mit Wolfgang Amadeus Mozart, den er schließlich als Hoforganist entließ.

In einem wahren Furor verfügte der hohe Kleriker das Zerhacken der hölzernen Palmesel und ihrer göttlichen Reiter, was durch Übersendung der Trümmer an den Konsistorialrat zu beweisen war. Da und dort war aber eine traditionsbewusste Bevölkerung aufsässig und versteckte ihre vorösterlichen Holzplastiken mit Erfolg.

Dies war beispielsweise im Salzburger Ort Puch der Fall. Ende des 18. Jahrhunderts, nachdem mit der Romantik ein Sinneswandel gegenüber altem Kulturgut eingetreten war, konnte man den Unterschlupf wieder öffnen, der allerdings während der NS-Zeit noch einmal aufgesucht werden musste. Seither gibt es aber dort bis zum heutigen Tag wieder stolze Palmprozessionen mit der 400 Jahre alten Statue.

Abziehbildgleich verhält es sich mit dem Ort Thaur bei Innsbruck. Auch hier hat die traditionelle Palmprozession mit der Statue, die gezogen wird, bis in unsere Gegenwart überlebt.

Bildquelle: meinbezirk.at

Eine mittelalterliche Tradition

Manchmal taucht völlig unerwartet etwas aus den tiefsten Tiefen der Zeit auf und manifestiert sich in einer Person. Diesmal geht es ein Jahrtausend zurück in die Zeit, als (wie bereits erwähnt) Bischöfe und später auch andere Geistliche am Palmsonntag leibhaftig auf einem lebenden Esel bei der Prozession mitritten.

Wir befinden uns wieder im Salzburgischen, im Dorf Thomatal. Dort wurde 1956 ein gewisser Valentin Pfeifenberger Pfarrer. Er hatte an der Universität Salzburg Theologie und Philosophie studiert, war sehr an alter Tradition und Brauchtum interessiert, gleichzeitig aber auch ein sehr volkstümlicher, umgänglicher, humorvoller Seelenhirte, und so beliebt dass er von seinen „Schäfchen“ den Ehrentitel „Bischof vom Lungau“ verliehen bekam.

Erstmals im Jahr 1967 griff der Pfarrer die erwähnte alte mittelalterliche Tradition des lebendigen Palmesel-Reitens wieder auf, nachdem sie rund 200 Jahre früher verboten wurde. Er führte sie bis kurz vor seinem Tod 2004 vor 20 Jahren fort. Am heurigen Palmsonntag wurde zum Angedenken an den „Geistlichen Rat“ ein kleines Ausstellungszentrum mit Exponaten aus seinem Nachlass –  von Kleidungsstücken bis hin zu Dokumenten – eröffnet.


Ist aber etwas Wertvolles erst einmal wieder an die Oberfläche gedrungen, dann ist die Chance, dass es weiterlebt, manchmal gar nicht so gering. Das trifft in Bezug auf die figurale Theatralik der Palmprozession tatsächlich auf den Salzburger Ort Hintersee zu, wo der Brauch aufgegriffen wurde. Nur das Alter der Durchführenden hat sich geändert: junge Ministrantinnen und Ministranten reiten nunmehr auf dem Esel durch das Dorf.

So, ich denke, jetzt bin ich lange genug im „Wagen“ des fröhlichen „Helden“ mitgefahren, gezogen von seinen ob seiner Liebenswürdigkeit ganz und gar nicht störrischen Eseln. Zeit, abzusteigen und den Jungen ins Erwachsenwerden zu entlassen.

Zum Abschied möchte ich ihm noch folgendes mitgeben:

„Du wirst gegenüber den meisten deiner Kolleginnen und Kollegen, die auf ihren Wagen in ihre Zukunft aufbrechen, einen großen Vorteil haben. Denn ihre Gefährte werden überwiegend von wilden und unberechenbaren Kreaturen gezogen. Du aber hast das Glück, mit zwei Zugtieren befreundet zu sein, die dafür bekannt sind, dass sie nicht ohne Überlegung manisch vorwärtsstürmen, sondern es keinesfalls als dumm oder feige ansehen, wenn sie mit dir abwartend und die Lage sondierend innehalten, insbesondere an Kreuzwegen, an denen wir alle im Leben öfter stehen!“

Ich verabschiede mich von dir mit dem schönen Gruß bodenständiger Menschen in der italienischen Friaul: „Mandi“ („In mano di Dio“ - „Sei in Gottes Hand“)!

Sophia auf der fünf Jahre alten Eseldame Paula; Foto: Franz Neumayr

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