Das Forest of Enchantment Tarot
„...For now the storm was close above them...“
Lord Tennyson, „Idylls of the King“ (Merlin and Vivian)
Eine Rezension von Gerhard Baumann
Ich denke, ich könnte dieses Tarot lieben, mich vielleicht aber auch ein wenig fürchten – halten uns doch die dämonischen Wesen aus den Artus-Sagen einen Spiegel vor, wie es auch in uns selbst aussieht, im Guten wie im Schlechten.
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Der Wagen im Forest of Enchantment Tarot
The Fairy Wind
Bereits ein wenig beunruhigend ist, dass uns die letzte der in den Wald entschwindenden Feen sich zu uns umwendet und uns nahezu hypnotisiert, ihr zu folgen.
Also geben wir dem Sog nach, dem unwiderstehlichen Wind („The Fairy Wind“). Er ist nämlich der immaterielle „Wagen“ (Karte VII) der Luftgeister, seit jeher ein magisches Instrument, überhaupt wenn er allmählich zur Sturm-Stärke anwächst. Darüber hat uns ja bereits William Shakespeare in seinem Drama „The Tempest“ belehrt.
Weiter nach hinten in den Wald eingedrungen, stimmt schon irgendetwas nicht mehr. Zunächst sind wir ja netten kleinen geflügelten Feen gefolgt (wie es sie ja zuhauf auch in Island und Irland gibt), doch dann taucht da plötzlich im Hintergrund eine Berittene auf.
Es ist nicht genauer auszumachen, ob die Flügel – wie bei den anderen – zu ihr gehören. Wozu benötigt sie dann aber ein Pferd? Oder sollte es sich gar um ein geflügeltes Ross handeln? Dann würde uns schon ein erster Spuk narren, indem er den Pegasus (wie er auf der „Wagen“-Karte im alten Visconti-Sforza-Tarot auftaucht), also griechische Mythologie mit der keltischen vermischt.
Machen wir uns gefasst darauf, dass wir mit dem Abbiegen in den gewiss dichteren Urwald die harmlose Sphäre der kleinen Feen verlassen und uns mit gewaltigen Hexen auseinandersetzen werden müssen. Drei davon werden uns immer wieder entgegentreten und uns narren, weil wir den Eindruck gewinnen werden, dass sie vielleicht auch nur ein einziges Wesen sein könnten. Später mehr dazu.
Der Wald Brocéliande
Der verzauberte Wald, den wir hier sehen, ist natürlich der „Wald Brocéliande“ („La Forêt de Brocéliande“) in der Bretagne. Nüchterne Kartographen können freilich die Anderswelt auf ihren Landkarten nicht verzeichnen, und so heißt der westlich von Rennes gelegene ausgedehnte Forst jetzt „Wald von Paimpont“.
Bildquelle: parentheseenbroceliande.fr
Kunstwerk von François Davin
September 1990 gingen bei einem verheerenden Brand 400 Hektar Wald in Flammen auf.
Dieser Baum mit goldenen Ästen ist ein Werk (1991) des Bildhauers François Davin und symbolisiert die Wiedergeburt des Waldes. Die Eiche ist von fünf verkohlten Baumstämmen umgeben, die für das Verschwinden der Natur stehen.
Könnte dies für uns auch ein Sinnbild sein für das Helle und Dunkle der VII. Tarotkarte?
Ersetzt dieses letzte Bild in Schwarz und strahlendem Gold nicht die sonst bei der „Wagen“-Karte üblichen dunklen und hellen Zugtiere, die nichts anderes symbolisieren als unsere guten und weniger guten Charaktereigenschaften.
Foto: Yannick Derennes
Ich und meine Gattin sind vor Jahren mit einer Gruppenreise an seinem Rand entlanggefahren, leider ohne Gelegenheit, ihn ein Stück zu durchwandern. Hier ist eben eine ganze Reihe von Erzählungen aus der Sagenwelt um König Artus lokalisiert.
Wenn wir uns tatsächlich mit diesem Tarot in diese Wildnis locken lassen, dann werden wir starke Nerven brauchen, denn die verwunschene Gegend ist nichts für Weichlinge.
Besonders gefährlich ist es angeblich für Betrüger in Liebesdingen, denn hier gibt es ein „Tal ohne Wiederkehr“ wo einst durch Magie untreue Liebhaber gefangen gehalten wurden – und der Bann soll sich bis heute erhalten haben, doch später mehr dazu.
Ich bin aber überzeugt, dass sich meine Leserschaft diesbezüglich nichts vorzuwerfen haben wird, und so wollen wir mutig einmal das Artussagen-Buch aufklappen. Dabei werden wir uns aber in erster Linie bei dieser Tarot-Karte nur diejenigen Figuren vorknöpfen, die mit dieser Gegend untrennbar verbunden sind, und das sind die Feen, nach denen diese Tarotkarte ja benannt ist.
Die berühmten anderen Protagonisten des Sagenkreises, der König selbst und die Ritter der Tafelrunde werden daher an dieser Stelle nur dann gestreift werden, wenn sie einen Bezug haben.
Feen und ihre Geschichten aus dem Artus Sagenkreis
Die Herrin vom See
Beginnen wir mit jener Fee, der „Herrin vom See“, der überhaupt zu verdanken ist, dass sich ein Sagenkreis um einen im Dunkel der Geschichte nicht mehr fassbaren König bilden konnte, der den Namen Artus getragen haben soll. Bis heute rätseln Historiker und Archäologen, ob es ein reales Vorbild für ihn gegeben haben könnte.
Vorausschicken müssen wir, dass der große Zauberer Merlin ein magisches Schwert, genannt Calibur, durch einen Stein bzw. Amboss getrieben hatte. Von ihm hieß es, nur der wahre künftige Herrscher könne es dort wieder herausziehen.
Illustration einer Handschrift der „Histoire de Merlin“ von 1280. Oben: der junge Artus zieht das Schwert Excalibur aus einem Amboss. Unten: er legt es bis zu seiner Krönung auf den Altar.
William Henry Margetson (1861– 1940); britischer Maler und Illustrator.
Ein Geschenk der Lady of the Lake an König Arthur: das Schwert Excalibur
Nachdem zahlreiche namhafte Ritter und Adelige an dieser Aufgabe gescheitert waren, gelang es Artus, das Schwert mühelos zu befreien, was ihn zum rechtmäßigen König machte.
Als er allerdings dieses Schwert in einer Schlacht zerschlagen hatte, schenkte die „Herrin vom See“ dem jungen König als Ersatz das Schwert „Excalibur“, um damit sein Königreich zu schützen.
Wie das nächste Bild zeigt, ging es auch dabei nicht mit rechten Dingen zu, denn aus dem Gewässer tauchte nur der Arm der „Lady of the Lake“ auf und hielt dem König die Waffe und ihre Scheide entgegen. Und als einer der Plätze, wo diese Begebenheit stattgefunden haben soll, wird selbstverständlich wieder der Wald Brocéliande genannt, und zwar der hier gelegene See von Comper.
See von Comper
Wer ist die Fee Morgan?
Lady of the Lake
Bisher war alles so klar, wie es eben in einer Parallelwelt klar sein kann. Doch nun beginnen die Schwierigkeiten. Diese „Lady of the Lake“ trägt nämlich keinen eigenen Namen, sondern figuriert immer nur mit ihrem Titel.
So kommt es, dass ihr im Allgemeinen auch keine eigene Persönlichkeit zugebilligt wird, sondern sie als Hülle angesehen wird für die beiden ambivalentesten Feen, die unseren Wald beherrschen, Teufelinnen, potentielle oder tatsächliche Mörderinnen, Heilerinnen und Retterinnen. Und zu allem Überfluss sind auch diese beiden austauschbar.
Morgan le Fay
Beginnen wir mit derjenigen, die wohl den berühmteren Namen trägt, mit Morgan le Fay. Diese große Zauberin ist so trügerisch, dass nach ihr die irreale Luftspiegelung, etwa vor allem in der Wüste, „Fata Morgana“ benannt wurde.
Sie ist die Halbschwester des Königs Artus, hasst ihn zwar, wird ihm aber zuletzt noch einen großen Liebesdienst erweisen. Sie ist eine so schillernde und unvorhersehbare Figur, dass diese fast ein Jahrtausend hindurch von Autoren und Künstlern immer wieder umgewandelt und unterschiedlich interpretiert wurde. Sie wurzelt allem Anschein nach in der keltischen Mythologie.
Eine erste Spur von Morgan
Eine erste Spur von Morgan findet sich in Geoffrey of Monmouth's „Vita Merlini“ (ca. 1150). Bei ihm ist sie die schönste von neun außerirdischen Schwestern, die jungfräulichen Priesterinnen auf der britischen Insel Sena ähneln, wie sie ein anderer, viel früherer Autor (der Geograph Pomponius Mela) in der Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. schilderte.
Diese seien einerseits große Heilerinnen auch in aussichtslosen Fällen gewesen und konnten wahrsagen, anderseits hatten sie auch die Fähigkeit, das Meer stürmisch zu machen und durch ihre Zaubersprüche die Winde loszulassen.
Wie heißt doch gleich unsere Tarotkarte? Richtig: „The Fairy Wind“! Natürlich gibt es eine Hypothese, Geoffrey hätte das antike Werk Melas gekannt, beweisen lässt sie sich allerdings nicht.
Feen in der Dichtung
Morgan bei Chrétien de Troyes
Morgan kann fliegen [!] und ihre Gestalt wechseln. Der Dichter sieht aber auch sie positiv als Heilerin. Das findet eine Fortsetzung bei Chrétien de Troyes (* um 1140 in Troyes; † um 1190). Er gilt als Begründer der Gattung „Höfischer Roman“ und als dessen wichtigster Vertreter in der altfranzösischen Literatur. Seine Versromane haben darüber hinaus die Literatur und Kunst europaweit nachhaltig beeinflusst. So waren sie zum Beispiel Vorlage für die mittelhochdeutschen Epiker Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach.
Von seinen nicht vollständig erhaltenen Werken sind vor allem fünf Romane überliefert, deren Stoffe überwiegend aus der sogenannten „Matière de Bretagne“ stammen, dem keltisch-britannischen Sagenkreis um König Artus.
Chrétien de Troyes in seinem Arbeitszimmer (Fantasiedarstellung auf einem Holzschnitt von 1530)
Diese Stoffe, denen vermutlich mündlich verbreitete Geschichten zugrunde lagen, reichert Chrétien mit erfundenen Episoden an und verlegt die Handlungen in eine Welt, die dem höfischen Zeitgeist entsprach. Auch er charakterisiert Morgan wohlwollend, doch kommt in der Folge französische Prosadichtung auf, mit der das Böse Einzug hält in das fiktive Leben der Fee, das nun in allen Einzelheiten geschildert wird.
So weiß das Werk „The Vulgate Cycle“, dass sie eigentlich ein Bastard ist, aber dennoch in einem Nonnenkloster erzogen wurde, wo sie nicht nur schreiben und lesen lernt, sondern auch die Heilkunst und Astrologie. Dann wird Merlin ihr Lehrmeister. Sie verliebt sich in Guiomar, den hübschen Cousin oder Neffen von Guinivere, der Gemahlin des König Artus.
Gemäß anderer Texte aus dieser Zeit weist Guiomar die Avancen der eifersüchtigen und ehebrecherischen Guinivere zurück, worauf sich diese boshaft rächt und das Liebesverhältnis ihres Zurückweisers mit Morgan zerstört. Er wird vom Hof in Camelot verbannt, den auch Morgan freiwillig verlässt, von nun an aber die Königin abgrundtief hasst und überhaupt böse wird. Ihre Abneigung weitet sich auch auf Artus aus, dessen Regierung sie nun zu unterminieren sucht.
Die Wunderwaffe Excalibur - ein Geschenk aus der Feenwelt
Artus besitzt ja, wie wir bereits wissen, das Zauberschwert „Excalibur“. Seine Klinge verleiht übermenschliche Stärke, seine Scheide aber macht, wenn man sie bei sich trägt, unverwundbar.
Von ihr fertigt Morgan eine unwirksame Kopie an und entwendet dem schlafenden König das Original, das sie ihrem aktuellen Verehrer schenkt. Der ahnungslose Herrscher wäre beinahe zu Tode gekommen, hätte ihn nicht eine andere Fee (Nimue/Viviane, oder eben anonymisiert „The Lady of the Lake“), die zweite mächtige Waldbewohnerin gerettet.
In einer anderen Sagenvariante wirft Morgan die magische Schwertscheide in den See, woher sie gemeinsam mit Excalibur ja auch auf wundersame Weise durch die „Herrin vom See“ an Artus gekommen war. Und dort – wie wir am Schluss in einer Version sehen werden – wird sie nach des König Artus Tod auch wieder mit der Wunderwaffe vereint sein.
Wer ist die berittene Gestalt auf der Tarotkarte?
Was sofort ins Auge springt, ist, dass Morgan hier beritten ist. Ist dies nicht Beweis genug (so möchte ich zumindest scherzhaft behaupten), dass es sich auch bei der berittenen Fee im Hintergrund auf unserer Feenwind-Tarotkarte bereits um Morgan gehandelt hat, die eilends nach rechts in die Tiefe des Zauberwaldes gesprengt ist, um für meine Erzählungen über sie bereit zu sein.
H(enry) J(ustice) Ford (1860 – 1941), ein britischer Künstler, der vor allem als Illustrator märchenhafter Stoffe brillierte, hat die erstgenannte Szene illustriert.
Doppelgestalt der Fee
Ist sie gut oder böse?
Esoterische Interpretation
Im übrigen möchte ich an dieser Stelle auch die Gelegenheit für eine Klarstellung nützen. Wie wir schon gesehen haben, wird unser logisches Denken immer wieder auf eine harte Probe gestellt, wenn wir zunächst den Eindruck gewinnen, es müsse sich um drei wichtige Feen handeln:
- Morgan le Fay, die uns bisher schon in ihren Bann gezogen hat,
- Nimue/Vivian, die wir in kürze kennenlernen werden,
- und die „Herrin vom See“ („The Lady of the Lake“), von der wir immer nur ihren aus dem Gewässer ragenden Arm zu Gesicht bekommen.
Ganz entgegen meiner sonstigen rationalen Grundeinstellung tendiere ich hier aber eher zu einer esoterischen Interpretation. Wir befinden uns ja in einer Anderswelt, einem parallelen Universum, und da hat unsere engstirnige und rechthaberische Logik keine Geltung, etwa vergleichbar dem Umstand, dass so manche irdischen Naturgesetze im Weltraum nicht anwendbar sind.
So weit, so widerspruchsfrei. Wer freilich auch nur ein bisschen in die Artusepik hineinschmökert, erfährt bald aus gewissen Versionen, dass es Morgan sei, die im See wohnt (und hier übrigens Lanzelot aufzieht), oder dass ihre Untaten denen von Nimue/Vivian sehr ähnlich sehen, sodass man den Eindruck gewinnen könnte, es würde sich überhaupt nur um ein Wesen drehen.
Genauso stehen wir verdutzt da, wenn eine der Feen, egal welche, auf der einen Seite eifersüchtig, verschlagen und sogar zum Mord fähig ist, anderseits dann aber wieder edel, hilfreich und gut (wie Friedrich Schiller sich ausdrücken würde) und sogar Leben rettet. Extreme, auf die auch wir vielleicht in unserer Umwelt stoßen, auf unserer Lebensreise, die wir im Namen der „Wagen“-Karte angetreten haben.
Nun, die rationale Erklärung ist wohl, dass der Stoff der Artussagen viele Jahrhunderte hindurch kreative Geister und aufspaltende Dichterfantasien in Bann geschlagen hat, die um die „Matière de Bretagne“ stets auch neue Ornamente wuchern ließen. Bis in unsere Gegenwart trägt der alte keltische Baum noch Früchte (man könnte sagen, es seien die stets verjüngenden Äpfel „Avalons“): in Form zahlloser Romane, Musik, Filme und TV-Produkte, Dokumentationen, Hörspiele, Zeichentrickserien und Comics, Spiele etc.
Die böse Seite der Fee Morgan
Das Tal ohne Wiederkehr
So, nach diesem Intermezzo gleich wieder zurück zur bösen Seite Morgans. Sie wird nun überhaupt zur Männerfeindin und erschafft – was wir schon in der Einleitung angedeutet haben – durch Zauberkraft das sogenannte „Tal ohne Wiederkehr“, in das sie alle ihre ungetreuen Liebhaber hinein verbannt.
"Das Tal ohne Wiederkehr" - "Le Val sans retour" [Foto: Sémhur; (CC-BY-SA-2.0)]
250 Männer wurden verbannt
Bei allem, was sie [die Fee Morgan] bisher schon an Verrat erfahren musste, erwischte sie zu allem Überdruss auch noch einen ihrer Liebhaber in flagranti mit einer Anderen. Dieses Manuskript von ca. 1480 überrascht wieder einmal mit einer relativen Freizügigkeit, die man früheren Zeiten zu Unrecht nicht zugetraut hätte.
Nun reichte es Morgan. Sie verhexte die Örtlichkeit und entschied, dass jeder Ritter, der sich in Liebesdingen jemals etwas zu Schulden kommen ließ, dazu verdammt sei, dieses „Tal ohne Wiederkehr“ nie mehr verlassen zu können. Die Sage weiß zu berichten, dass 250 Betrüger hier für zwanzig Jahre eingesperrt waren, bis sie durch Lanzelot befreit werden konnten. Doch das steht auf einem anderen Blatt, beziehungsweise auf einer anderen Wagenkarte aus dem Avalon-Tarot, die Lanzelot gewidmet ist, und über die ich vielleicht auch einmal einen Kommentar schreiben werde.
Ich vermute (um die Düsternis unseres Waldes mit ein wenig Spaß zu durchlichten), dass der Bannfluch Morgans danach überhaupt gebrochen war, denn würde er heute noch gelten, dann müssten seit der „sexuellen Revolution“ in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts für viele gegenwärtige Besucher des Tals wohl Platzkarten vergeben werden, um jegliches Gedränge zu vermeiden. Oder der Wald der Gebannten wäre wegen Überfüllung und des daraus resultierenden Platzmangels ohnedies schon längst geschlossen worden. Die Überzähligen wären mit Fußfesseln nach Hause geschickt worden, wo ihnen durch ihre betrogenen, verschmähten und nun hasserfüllten Partnerinnen wesentlich mehr Ungemach drohte als von so ein bisschen Waldhexe.
Die Fee Nimue, auch Vivian genannt
Die "Männerhasserin"
Doch der Hass der Fee auf die Männerwelt war noch lange nicht gestillt. In den nach der „Vulgate“ abgefassten Schriften verliebt sich nun Merlin zu seinem Pech in sie, welche die Situation schamlos ausnutzt, um an seine geheime allerhöchste Zauberkraft zu gelangen. Solches vollbracht, verspottet sie ihn, und bedroht ihn mit dem Tod, falls er jemals wieder versuchen würde, sich ihr zu nähern. Wir werden allerdings sehr bald sehen, dass es dem Armen durch die in Rede stehende andere Fee noch viel schlechter ergehen wird.
Wenden wir uns ihr doch gleich zu. Es ist die Fee Nimue, auch Vivian genannt. Sie wurde einmal als „Zauberin, die selbst einen Zauberer verzaubert“ charakterisiert. Und hier kommt wieder Merlin ins Spiel. Die neue mächtige Protagonistin übernimmt Eigenschaften und Taten, die schon Morgan zugeschrieben wurden.
Schon in der ältesten Quelle, in der sie erscheint, der französischen „Vulgate Estoire de Merlin“, liebt Nimue den Zauberer Merlin so sehr, dass sie ihn in einen schönen Turm sperrt, um ihn für immer für sich selbst zu besitzen. Anscheinend hat sie ihm schon soviel von seiner geheimen Magie abgeluchst (wie wir dies auch von Morgan hörten), dass er sich nicht wehren kann.
Ich weiß einfach nicht, ob unsere Hexen im Zauberwald immer schlimmer werden, oder die Fantasien jener Dichter, die sich mit ihnen befassen, durch die Jahrhunderte immer grausamer? Denn plötzlich schlägt auch die Liebe der Nimue/Vivian (wiederum wie bei Morgan) in Hass um, diesmal aber in tödlichen.
J. Ford, Illustration aus "The Book of Romance"
Illustration (1868) von Gustave Doré zu Lord Alfred Tennysons“Idylls of the King“
Merlins Tod durch die Fee Nimue/Viviane
Denn in der auf die „Vulgate“ folgenden Dichtung „Suite du Merlin“ öffnet Merlin in ihrer Anwesenheit das zuvor durch Zauber versiegelte Grab zweier Liebender. Als er hinabsteigt, schließt sie magisch wieder die Gruft über dem Magier, der darin langsam umkommt.
Keine Spur menschlicher ist das Sterben, das Nimue/Viviane Merlin in einer anderen dichterischen Variante zugedacht hat. Auch hier begeben sie sich in das Dickicht von Brocéliande. Als der Magier ermattet an einem Baumstamm ausruht, wendet sie einen Bann gegen ihn an, den er nicht brechen kann. Er wird bis zu seinem Ende von einem Weißdornstrauch festgehalten und muss also auch hier qualvoll verhungern.
Der bretonische Volksglaube hat ihm freilich eine würdige Grablege gegönnt, passend gleichermaßen zu legendären wie zu historischen Urzeiten, denn es ist der Rest zweier Megalithanlagen (Allées couvertes). In der Nähe liegt übrigens eine weitere Megalithanlage, die „pikanterweise“ das „Haus der Viviane“ heißt. Inzwischen sind der Wald und Merlins Grab Ziel von neopaganistischen Strömungen und Anhängern des Sagenkreises um die Ritter der Tafelrunde.
Merlins Grab
Blickt man noch einmal auf den abgrundtiefen Hass Morgans und Nimues/Vivianes auf Merlin und Artus, so könnte man fast meinen, diese beiden seien als Urbilder des „Alten Weißen Mannes“ einer ersten „fee-ministischen“ Aversion zum Opfer gefallen. Es ist aber wohl in erster Linie überbordende Herrschsucht, Ehrgeiz und vor allem Machtgier, die sich hier manifestiert.
Merlins Grab. Foto: Cocu Cyril (CC BY-SA 3.0)
Das Streben nach Macht
Denn, hat man den größten Zauberer der Zeit beseitigt und ihm vorher noch seine Geheimnisse entrissen, dann ist die eigene Macht als Hexe nicht mehr zu überbieten.
Was sagt der Psychologe Alfred Adler dazu?
Und wenn der große Psychologe Alfred Adler (zumindest zu einem gewissen Zeitpunkt) das Streben nach Macht als eine anthropologische Grundkonstante auffasste, so irrte er nur insofern, als er dabei offensichtlich nur menschliches Verhalten im Auge hatte, solches sich aber – wie wir es jetzt zur Genüge gesehen haben – auch auf gewisse Feen ausdehnen lässt.
Nein, er irrte natürlich nicht, denn wir haben diese Dämoninnen selbstverständlich literarisch nach unserem Ebenbild erschaffen. Der frühe Alfred Adler hat ausuferndes Machtstreben, verbunden mit Zwang und Gewalt, auch mit Minderwertigkeitsgefühl in Verbindung gebracht.
Oder wie es Manès Sperber komplizierter, aber unnachahmlich ausgedrückt hat:
„Für Adler ist Machtstreben eine verfehlte Kompensation quälender Minderwertigkeitsgefühle gedemütigter Menschen, eine Unfähigkeit zu einem auf Gleichwertigkeit beruhenden sozialen Verhaltens“.
Quelle: Jürg Rüedi: „Macht“ und „Machtstreben“bei Alfred Adler
Auch diese Erkenntnis stimmt mit der Sagenrealität überein. Erinnern wir uns bitte, wie sehr Morgan (und ich setze sie hier wiederum gleich mit Nimue/Viviane) durch Guinivere, der Gemahlin des König Artus, gedemütigt worden war, als sie deren Liebesverhältnis mit Guimar zerstörte, der vom königlichen Hof verbannt wurde. Die edlen Ritter der Tafelrunde, die teilweise auch nicht frei von Makeln sind, verachteten Morgan/Viviane daraufhin wie ein leichtfertiges Weib, um nicht einen stärkeren Ausdruck zu gebrauchen.
Der magische Mord der Viviane an Merlin
Der bedeutende viktorianische Dichter Lord Alfred Tennyson legte in seiner Nachdichtung des magischen Mords der Viviane an Merlin, dieser ihre treffenden wütenden Worte an Merlin über die Tafelrunde sehr gut nachempfindend in den Mund:
Ich versuche, dies halbwegs zu übersetzen:
...Vivien, frowning in true anger, said:
"What dare the full-fed liars say of me?
They ride abroad redressing human wrongs!
They sit with knife in meat and wine in horn!
They bound to holy vows of chastity!
Were I not woman, I could tell a tale.
But you are man, you well can understand
The shame that cannot be explained for shame.
Not one of all the drove should touch me: swine!"
...Vivien, die Stirn in echtem Zorn runzelnd, sagte:
"Was wagen die vollgefressenen Lügner über mich zu sagen?
Sie reiten umher und machen menschliches Unrecht wieder gut!
Sie sitzen da mit Messern in den Fleischspeisen und Wein im Horn!
Sie sind an heilige Gelübde der Keuschheit gebunden!
Wäre ich nicht eine Frau, könnte ich eine Geschichte erzählen.
Aber du bist ein Mann, du kannst die Schande gut verstehen,
die aus Scham nicht erklärt werden kann.
Keiner aus der ganzen Herde sollte mich berühren: Schweine!"
Das Treiben der Ritterschaft
Der Großmeister der Illustration von Weltliteratur, Gustave Doré, hat 1867 eindrucksvoll die literarischen Zeilen Tennysons über das weltlichen Genüssen in keiner Weise abholde Treiben der Ritterschaft von der Tafelrunde in seine eigene Bildsprache umgesetzt:
Freilich sollten ich nun allmählich zu den letzten Geschichten im Artus-Sagenkreis kommen, in denen die Feen eine überragende Rolle spielen (auch wenn dies wieder nur eine Auswahl darstellt).
Denn sonst treffen womöglich noch die dichterischen Worte Joseph von Eichendorffs auf mich zu:
„Es ist schon spät, es wird schon kalt, kommst nimmermehr aus diesem Wald.“
Meine Chance ist freilich, dass im zitierten Gedicht („Waldgespräch“) eine andere Hexe, nämlich die bei allen Rheinschiffern gefürchtete „Loreley“, gerade in einem anderen Wald beschäftigt ist, wo sie eine berittene Braut für immer gefangen hält. So kann ich hoffen, dass ich da wie dort „unter dem Radar“ bleibe.
Mordred und sein unseliges Schicksal
Denn just, wo nun alles zu Ende geht, erweisen sich unser keltischen dämonischen Feen als warmherzige, mitfühlende, besorgte bzw. trauernde Geschöpfe. Versteh' einer die Frauen – ach ja, sie sind ja nicht menschlich, sondern Feen.
Ich versuche, es halbwegs kurz zu machen. Da gibt es in der Artus-Sagenwelt einen gewissen Mordred. In frühen Fassungen ist nur seine Herkunft belastet, denn er ist das Produkt einer allerdings völlig unbeabsichtigten, einem tragischen Irrtum geschuldeten inzestuösen Beziehung zwischen König Artus und Morguse, einer weiteren Halbschwester von ihm, die aber völlig der Dämonie von Morgan, der anderen Halbschwester, entbehrt.
Es bleibt dann Sir Thomas Malory (* um 1405; † 1471) vorbehalten, Mordred zum unüberbietbaren Schurken umzuformen, und zwar in seinem Werk „ Le Morte d’Arthur“, in dem er die verschiedenen Stränge der Artus-Legende in eine Prosa-Erzählung zusammenfügte, die viele Kritiker für die beste ihrer Art halten.
Das Schicksal von König Artur
Als Artus weit entfernt im Krieg weilt, usurpiert Mordred dessen Thron und macht die Königin Guinivere zu seiner Frau. Artus kehrt zurück und es kommt zu einer Reihe von Kämpfen, sowie zur Entscheidungsschlacht von Camlann, gewissermaßen einem keltischen Armageddon. Das Schicksal will es so, dass Artus zwar den Frevler tötet, selbst aber auch schwer verwundet wird.
Es gibt nun zwei Versionen. In einer lebt Artus noch, und Morgan bringt ihn auf einem Kahn zu der höchst geheimnisvollen Insel „Avalon“, was keltisch „Apfelland“ bedeutet und in einigen Interpretationen mit dem sagenhaften antiken „Garten der Hesperiden“ verglichen, dessen goldene Äpfel den griechischen Göttern ewige Jugend verliehen.
Morgan soll übrigens die Herrscherin über dieses Eiland, wo weitere Feen wohnen, gewesen sein. Und es gelingt ihr – unübertroffene Heilerin seit ihrer Jugend – den König, ihren vormals so verhassten Halbbruder zu kurieren. Dort harrt er nun mit den Rittern der Tafelrunde seiner Wiederkunft, dann, wenn die Not in seinen ehemaligen Landen aufs höchste gestiegen sein wird.
Arthur Rackham (1867 – 1939): "How Mordred was Slain by Arthur, and how by him Arthur was hurt to the death.“
Sich gegen das Böse wappnen
Diese Vorstellung ist eine Art Topos, nur dass die Erretter üblicherweise im Inneren von bestimmten Bergen schlafen, bis sie gewappnet mit mächtigen Heeren hervorbrechen werden, um gegen das Böse anzutreten.
Kaiser Barbarossa
Der berühmteste dieser monarchischen Helden ist wohl Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser (andere verorten ihn im Salzburger Untersberg). Zweimal ist sein Bart schon um den Steintisch, neben dem er ruht, herumgewachsen. Beim dritten Mal wird sich die Prophezeiung erfüllen.
„Kralj Matjaž“ (König Matthias)
In der Kärntner Petzen wiederum schläft Matthias Corvinus – von der dortigen slowenischen Volksgruppe „Kralj Matjaž“ (König Matthias) genannt, der das Bewusstsein vererbt wurde, dass er für die armen und einfachen Leute ein guter Herrscher gewesen war, während ihn andere Potentaten der Zeit (insbesondere Kaiser Friedrich III.), gelinde gesagt, ganz und gar nicht schätzten.
Staufer Friedrich II und Dietrich von Bern
Der Staufer Friedrich II. wurde in den Ätna versetzt, ebenso wie der Ostgote Theoderich (als Sagengestalt „Dietrich von Bern“) – aber nicht als künftige Erlöser, sondern ganz im Gegenteil, denn beide wurden von der Kirche als leibhaftige „Gottseibeiuns“ angesehen, sodass man sie als Höllenersatz eben in den glühenden Vulkan versetzte.
"Er ist wieder da"
Volkssagen können sich auch in neuerer Zeit bilden, und so träumte man in deutschen Landen zu gewissen Zeiten von der Wiederkehr Bismarcks. Und es geht die Fama, dass auch Hitler irgendwo auf seine Wiederkehr warten würde. Die politisch „rechten Lager“ werden seinen Aufenthaltsort wohl kennen.
In diesem Zusammenhang möchte ich im übrigen auf den amüsanten, aber auch bedenklich stimmenden Roman „Er ist wieder da“ von von Timur Vermes und seine Verfilmung (2015) verweisen.
Das Ende der Artus Sage
Walter Crane (1845-1915): Sir Bedivere wirft Excalibur der Herrin vom See zu
Andere Versionen haben freilich die Artus-Sage einem pessimistischen und traurigen Ende zugeführt. Hier erliegt der König seinen Wunden. Aber auch der Tote wird auf einem Boot, auf dem nun auch der Tafelritter Sir Bevidere mitfährt, nach Avalon gebracht. Ihm obliegt die ehrenvolle Aufgabe, den Kreis zu schließen, indem er das Schwert „Excalibur“ in den See wirft. Die „Lady of the Lake“, die es verliehen hat, streckt wieder ihren Arm aus dem Wasser, um mit der Waffe in den Fluten zu versinken.
Sir Edward Coley Burne-Jones (1833 -1898), britischer Maler und einer der führenden Präraffaeliten, hat den letzten Schlaf König Artus' in Avalon eindrucksvoll künstlerisch dargestellt. Nicht „Engelscharen singen ihn zur Ruh'“ wie Hamlet, sondern Feen musizieren leise sein letztes Wiegenlied. Aber auch hier gilt: „Der Rest ist Schweigen“. Ich kann mir auch für meinen Beitrag keinen besseren Schluss vorstellen.
© Gerhard Baumann
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