Der Eremit im Tarot: Symbolik und Bedeutung

Eine Rezension von Gerhard Baumann

Wie wunderbar passt das Große Arcanum „Der Eremit“ zum Monat Dezember, zu den Tagen, in denen ich diese Zeilen geschrieben habe. Und auch der Schnee, in dem der Einsiedler im beliebten Tarot von Arthur E. Waite und Pamela Colman Smith steht, und sein dicker grauer Kapuzenmantel würden zu dieser Winterzeit passen.

Und ich möchte gerne zur Einstimmung die ersten drei Strophen aus dem wunderbaren Dezembergedicht aus dem Büchlein „Die dreizehn Monate“ von Erich Kästner zitieren:

Der Eremit aus dem Rider Waite Smith Tarot, aus dem Visconti-Este-Tarot und aus dem "Charles VI" oder "Gringonneur Tarot"

„Die dreizehn Monate“ 

von Erich Kästner

„Das Jahr wird alt. Hat dünne Haar.

Ist gar nicht sehr gesund.

Kennt seinen letzten Tag, das Jahr. 

Kennt gar die letzte Stund.

Ist viel geschehn. Ward viel versäumt. 

Ruht beides unterm Schnee.

Weiß liegt die Welt, wie hingeträumt. 

Und Wehmut tut halt weh.

 

Noch wächst der Mond. Noch schmilzt er hin. 

Nichts bleibt. Und nichts vergeht.

Ist alles Wahn. Hat alles Sinn. 

Nützt nichts, dass man's versteht.“


Doch unser Sinn für Symbolik wäre äußerst dürftig, würden wir die vorliegende Tarot-Karte auf ein Winterbild reduzieren. Denn die düstere Jahreszeit gemahnt uns natürlich auch an den „Winter des Lebens“. Zeit, Bilanz zu ziehen, nachzudenken, kritisch seinen eigenen momentanen Status zu hinterfragen, aus der Kenntnis der Vergangenheit auch die Zukunft vorzubereiten – ohne Überstürzung oder Unbeweglichkeit [wie dies Oswald Wirth seinem „Eremiten“ zubilligt. (In: Tarot der Meister, S. 112)].

Und dieses Sinnieren des Einsiedlers muss in der frühen Zeit des Tarots, soweit sie für uns noch fassbar ist, noch deutlicher im Zentrum gestanden sein, denn im Visconti-Este-Tarot aus dem 15. Jahrhundert trägt der Eremit anstelle der Laterne eine Sanduhr.

Auch das aus derselben Zeit stammende "Charles VI" oder "Gringonneur Tarot" verbildlichte diese Idee, nach welcher der weise Alte betrachtet, wieviele vergangene Stunden bereits in Form von Sandkörnern durch die enge Mitte des urtümlichen Zeitmessers gerieselt sind, und wieviele noch übrig sein werden, den Weg in die Ewigkeit anzutreten.

 

Das Wort: "Eremit" 

Ein so hohes Maß an Besinnung ist natürlich nicht überall möglich, man muss dafür ungestört sein, abgesondert vom Stress und Trubel der lauten und geschäftigen Welt. Und diese Bedingung spiegelt auch schon das Wort „Eremit“ wieder. Es kommt ursprünglich aus dem Griechischen und bedeutet eigentlich „zur Wüste gehörig, in der Wüste lebend“.

Und tatsächlich erachtete man die Wüsten als vorzüglich geeignet, um sich ungestört zurückziehen und in der längsten Meditation seines Lebens sowohl um eine Antwort auf die Kardinalfragen zu ringen:

„Woher kommen wir?“, „Wohin gehen wir?“, „Was ist der Sinn unseres Erdenwandels?“, als auch die Stärke aufzubringen, persönliche Schuld zu bekennen und selbst erlittenes Unrecht zu verzeihen, den Mut zu haben, alle eigenen Verlogenheiten, Ausreden und Wehleidigkeiten vor sich selbst zuzugeben, und vielleicht die Gnade einer Zwiesprache mit Gott zu erfahren.

Und es gab sie tatsächlich, die Eremiten, Anachoreten oder Wüstenväter, frühchristliche Mönche, die sich seit dem späten 3. Jahrhundert in die Wüsten Ägyptens, Palästinas und Syriens zurückzogen, um ein Leben der Askese, des Gebets und der Arbeit zu führen. Manche wollten wohl auch vor der diokletianischen Christenverfolgung fliehen, doch darf man nicht vergessen, dass Städte wie Alexandria, Damaskus oder Ephesus für damalige Verhältnisse turbulente Großstätte waren, auf jeden Fall kein Boden für Kontemplation.

War das Vorbild für diese Eremiten der Rückzug Christi in die Wüste, um 40 Tage zu fasten?

Ihm soll dies zur Vorbereitung auf sein öffentliches Wirken gedient haben.

Der heilige Kirchenvater Hieronymus

Luxusurlaub war so ein Aufenthalt natürlich nicht. Hören wir einem zu, der einen solchen Rückzug in die Wüstenei gewagt hatte, nachdem er vorher von seinen geistlichen Brüdern gemoppt worden war.

Es handelt sich um den heiligen Kirchenvater Hieronymus. Sein asketisches Abenteuer, dem schon eine Retirade in die Nähe der Stadt Aquileia vorausgegangen war, hat auf jeden Fall in der Realität stattgefunden.

Ich benutze aber jetzt für eine Schilderung seines Abenteuers keine moderne biografische Quelle, sondern greife bewusst auf das bedeutendste Legendenwerk der Vergangenheit zurück, auf die Legenda aurea des Genueser Bischofs Jacobus de Voragine aus den Jahren um 1264: 

„Da ich in der Wüste war, in der großen Einsamkeit, welche den Mönchen eine fürchterliche Wohnung ist, von den Strahlen der Sonne ausgebrannt, da dünkte mir, ich wäre zu Rom in aller Lust und Freuden.

Meine Glieder waren rauh und unförmig in dem härenen Sack, der mein Kleid war; meine Haut war unrein und schwarz gebrannt als eines Mohren Haut. Alle Zeit war ich in Tränen und Seufzen.

Unterweilen überkam mich der Schlaf wider meinen Willen; so druckte das harte Erdreich wider die dürren Glieder. Von Trank und Speise will ich schweigen, da ja auch die Kranken kalt Wasser trinken, und Gekochtes zu essen große Üppigkeit wäre gewesen.

Ob ich nun gleich ein Geselle war der Scorpionen und ein Genosse der wilden Tiere, so war ich im Geiste doch oft in dem Reigen schöner Jungfrauen, und in dem kalten Leib und in dem halbtoten Fleisch tobte noch das Feuer sündlicher Begier.

Also weinte ich alle Zeit und zähmte das widerspenstige Fleisch durch wochenlanges Fasten. Ich weinete oft Tag und Nacht und ließ nicht eher ab, die Brust zu schlagen, bis mir von Gott Ruhe ward verliehen.

So fürchtete ich auch die Wände meiner Zelle, als wüssten sie meine Gedanken; und ward mir selbst gram und feind, und zog allein fürder in die Wüste. Des ist der Herr mein Zeuge, dass ich darnach nach vielen Tränen unterweilen in dem Reigen der Engel vermeinte zu sein".

Die erste Versuchung Christi

Das hört sich ganz nach wiederkehrenden Halluzinationen an. Und das sollte eigentlich nicht verwundern, denn der Mensch ist laut Aristoteles auch ein „zoon politicon“, „ein Lebewesen in der Gemeinschaft“.

Und wenn das zu lange aus den Augen verloren wird, dann vergesellschaftet sich der Eremit mit allerlei Dämonen.  Sogar Christus wird nach seiner Askese in der Wüste vom Teufel heimgesucht, dem er natürlich widersteht.

Bild: Die erste Versuchung Christi;  um 1222; Kopenhagen, Det kongelige Bibliothek

Ganz arg erging es freilich dem wohl berühmtesten aller Eremiten, dem hl. Antonius dem Einsiedler. Ihm blieb keine fleischliche Versuchung, aber auch keine körperliche Peinigung und Folter erspart, sodass es nicht verwundert, dass größte Künstler der Vergangenheit diese Qualen sich in ihrer fiebrigen Fantasie vorgestellt haben und in höllenglühenden Bildern festzuhalten versuchten.

Hieronymus Bosch

Hieronymus Bosch (um 1450 – 1516) hat sich mehrfach mit diesem Thema beschäftigt. Ich zeige hier die Mitteltafel eines Triptychons, das in Lissabon aufbewahrt wird.

Zentral ins Bild gesetzt ist die Hauptfigur der Tafel, die den von Dämonen und Teufeln bedrängten Hl. Antonius darstellt, der sich in seiner blauen Mönchskutte zum Betrachter wendet, um dann zu dem in der Turmruine präsenten Christusbild zu beten.

Die wahrscheinlich berühmteste Darstellung der Szene befindet sich aber auf dem im Colmarer Musée Unterlinden aufgestellten „Isenheimer Altar“ (1512 - 1516) von Matthias Grünewald (ein Forschungszweig setzt den Namen des Künstlers nunmehr mit Mathis Nithart-Gothart an).

In der Antike folgte der Aufführung einer Tragödie das heitere Satyrspiel, das von den Anspannungen der zuvor dargestellten dramatischen Schicksale befreien sollte.

Und so dachte ich mir, es könne nicht schaden, meiner Leserschaft nach all dem vorangegangenen verbildlichten teuflischen Saus und Braus ein kleines Lächeln abzugewinnen, indem ich noch drei Abbildung von des Antonius Anfechtungen präsentiere, diesmal jedoch von dem Großmeister humoristischer Dichtung und Zeichnung, Wilhelm Busch.

Er beging nur einen Fehler: er verwechselte nämlich unseren Wüsteneremiten mit dem hl. Antonius von Padua. Eigentlich völlig egal, denn es wird wohl kaum einmal einen Heiligen gegeben haben, der nicht Opfer verschiedener weltlicher Verlockungen geworden wäre, denn der Teufel schläft bekanntlich nie. Ich bringe natürlich nur ein Exzerpt.

Auch moderne Künstler hat das Thema noch fasziniert, etwa Beckmann, Redon, Lovis Corinth oder den belgischen Symbolisten Félicien Rops (1833 – 1898), dem das nachstehende, von aberwitziger Fantasie getragene Bild zu verdanken ist.

Der heilige Antonius von Padua
Saß oftmals ganz alleinig da
Und las bei seinem Heiligenschein
Meistens bis tief in die Nacht hinein.

Und wie er sich umschaut, der fromme Mann,
Schaut ihn ein hübsches Mädchen an. –
der heilige Antonius von Padua
War aber ganz ruhig, als dies geschah.

Die üppige Maid beginnt nun aber, den frommen Mann zu kitzeln, ja zu küssen und landet dann gar auf seinem Schoß. Bevor womöglich noch die Kutte fällt, reckt er sich zum rettenden Symbol der Erlösung.

Er sprang empor, von Zorn entbrannt;
Er nahm das Kreuz in seine Hand:

Damit gelingt es ihm, den Teufel zu zwingen, in seiner wahren Gestalt zu erscheinen.

Der Versucher muss daher blamiert – über einen Umweg durch den Kamin – wieder zur Hölle zu fahren. Antonius kann beruhigt weiterlesen.

Quelle: Tourism Ireland

Als ob die nur im keltischen Sagennebel existierende verschleierte Insel Avalon sich plötzlich  zu Stein materialisiert hätte. Dort ruht König Arthur in todesähnlichem Schlaf. Doch er wird wiederkommen, wenn die Welt ihn am dringendsten braucht.

Auch ich versuche nun schleunigst meine Weitschweifigkeit zu exorzieren und zur Tarot-Karte zurückzukehren. Nachgetragen darf noch werden, dass es außer Wüsten natürlich auch noch andere Rückzugsorte für Eremiten gab, die sich dann jedoch meist zu Mönchsgemeinschaften zusammenschlossen. Inseln taugten für solche Vorhaben, wie etwa „Skellig Michael“ vor Irlands wilder Atlantikküste.

Der Dramatiker George Bernard Shaw nannte die Insel einen „unglaublichen, unmöglichen, verrückten Ort, wie unserer Traumwelt entsprungen“.

Es wäre wohl in vergangenen Jahrhunderten keinem normalen Sterblichen eingefallen, dieses nur mit einem Boot erreichbares Eiland aufzusuchen, wären da nicht vom 6. bis 8. Jahrhundert an Mönche gewesen, die genau jenes Ideal in sich trugen, das uns die „Eremit“-Tarotkarte näherbringen möchte, nämlich eben sich aus dem weltlichen Treiben zurückzuziehen, um den Mittelpunkt des Seins zu finden.

600 Steinstufen mussten die Mönche bewältigen um ihre kleinen, spartanischen Zellen in Form von typisch irischen „Bienenkorbhütten“ aus Steinen zu erreichen. Die Gemeinschaft dürfte sich auf dreizehn Mönche und einen Abt beschränkt haben – nach dem Vorbild der zwölf Apostel Christi.

Für unser Thema ist sehr interessant, dass moderne archäologische Wissenschaft festgestellt  hat, dass im 9. Jahrhundert ein Eremiten selbst diese so kleine Gemeinschaft als zu störend empfand, als eine Barriere zwischen Gott und ihm.

Er ließ sich auf das lebensgefährliche Abenteuer ein, eine eigene kleine Einsiedelei beim kaum zugänglichen Südgipfel zu errichten. Die genauere Erforschung war selbst mit heutigen Mitteln äußerst gefährlich. Fotos konnten zum Teil nur mit einem kleinen Flugzeug gemacht werden.

Längst ist der kleine Konvent von der Insel verschwunden und das Gegenteil zum Tarot- Postulat der „Eremiten“-Karte ist eingetreten. 1996 wurden die Relikte zum UNESCO-Welterbe erklärt, was an und für sich begrüßenswert wäre.

Schlimm ist aber, dass das „Star-Wars“-Filmteam die Insel als Drehort für gewisse Szenen entdeckt hat, wodurch die Zahl der Besucher seither naturgemäß gewachsen ist. Man kann täglich eine Bootstour von einem der Festlandhäfen buchen – ob diese allerdings dann durchführbar ist, entscheidet die Wetterlage, da der Atlantik in diesem Bereich sehr rau ist.

Auch ist das Anlanden selbst bei ruhiger See nicht ungefährlich. Entsprechend Betuchte können daher mittlerweile  die Skelligs auch schon  aus der Luft erleben, denn es werden Rundflüge über die Insel angeboten, teilweise sogar mit Wanderstopp.


Ein größerer Kontrast von einst und jetzt ist kaum denkbar. Kontemplation, Meditation, Rückbesinnung und Zukunftsvisionen ohne erzwungenes Wirtschaftswachstum anno dazumal, gegen Stress, Hast, Unruhe, veloziferischen (© Goethe) Geschwindigkeitsrausch, Streben nach äußerlichem Reichtum, Prestigedenken, Jugendlichkeitswahn, Tabuisierung von Alter, Krankheit und Tod in unserer gegenwärtigen Stopp- und Stechuhr-Gesellschaft. Man sollte unserer Tarot-Karte des „Innehaltens“ daher einen sehr hohen Stellenwert einräumen.

Berge als Rückzugsort

Zu Eremiten-Plätzen in der Wüste und auf Inseln gesellt sich noch ein geeigneter Standort: die Einsamkeit der Berge. Am prominentesten ist diesbezüglich wohl die Mönchsgemeinschaft auf dem griechischen Berg Athos, über die ich mich wegen ihres populären Bekanntheitsgrades wohl nicht weiter verbreitern muss.

Also sprach Zarathustra

Friedrich Nietzsche

Anders verhält es sich wohl mit Friedrich Nietzsches „Zarathustra“, den ich um so lieber erwähne, als er als Beispiel dienen kann, dass Einsiedlertum nicht unbedingt allein mit christlicher Religion in Verbindung steht.

So sendet der Nihilist Nietzsche in seinem dichterisch-philosophischem Werk „Also sprach Zarathustra“ diesen von ihm vom persischen Religionsstifter zum Kreator des „neuen Übermenschen“ Umgestalteten zunächst für zehn Jahre in die Einöde der Berge.

Nach dieser Frist drängt es Zarathustra, hinabzusteigen zu den Menschen, um seine als Eremit gewonnene Weisheit mitzuteilen. 

Interessant ist, dass er auf seinem Weg ins Tal einem weiteren, greisen Einsiedler beim Wurzelsammeln begegnet, der ihn schon damals beobachtete, als er hinauf zum Gipfel strebte und ihn jetzt fragt: „Damals trugst du deine Asche zu Berge: willst du heute dein Feuer in die Täler tragen?“

Zarathustra betont, dass er die Menschen liebt. Der Greis meint, er selbst habe einst die Menschen zu sehr geliebt und sich daher in die Einsamkeit zurückgezogen habe, um nunmehr nur mehr Gott zu lieben. Und er warnt vor den Menschen, die misstrauisch gegen die Einsiedler seien und nicht glauben würden, dass diese gekommen wären, um ihnen etwas zu schenken.

Zarathustra lässt sich aber nicht beeindrucken, sondern denkt im Weitergehen: „Sollte es denn möglich sein! Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch nichts davon gehört, dass Gott tot ist!“ So taucht dieses wohl berühmteste Zitat Nietzsches (neben anderen Stellen) auch hier nach dem Gespräch zweier Eremiten auf.

Es ist hier freilich nicht der Ort, dies näher zu beleuchten. Nur soviel: es wird oft so gedeutet, dass sich der Philosoph gewünscht hätte, dass Gott tot sei.

Es gibt aber auch die Interpretation, das es sich eher um eine Beobachtung Nietzsches handelte, gewonnen aus seiner gesellschaftlichen Umwelt, inklusive Christen, die ihm zu wenig „erlöst“ vorkamen.  Sein Eindruck hätte sich wahrscheinlich noch verstärkt, wäre er ein Jahrhundert später am Leben gewesen.

Im übrigen erntet Zarathustra, bei den Menschen angekommen, für seine Lehren nur Spott und Hohn, wie es ihm der Greis vorausgesagt hatte. Da beschließt er, von nun an Ansammlungen von Menschen zu meiden und sich gänzlich auf die Suche nach verwandten Geistern zu begeben. Ich werde später noch einmal kurz darauf zurückkommen.

Nun wieder zum Tarot. Anna Rathkolb bietet uns in ihrer sehr informativen Übersicht über die „Einsiedler“-Karte auch die negativen Seiten, die dann zum Tragen kommen, wenn zu viel übertriebene Kontemplation in Isolation, immerwährendes Abschotten von der Gesellschaft in Vereinsamung, und immerwährendes Schweigen in sprachliche Verarmung führt.

Nun, Dämonen bevorzugen die tiefste Finsternis, sei es die der mond- und sternenlosen Nacht außerhalb, oder jene Düsternis in uns. Beleuchten wir dies unter einem anthropologischen Aspekt. Wenn das Rad die wohl epochalste Erfindung des Urmenschen war, so war das Feuer wohl seine wichtigste Entdeckung, als es ihm nämlich gelungen war, die Glut, die ein Blitzschlag in einem dürren Geäst hinterlassen hatte, zu bewahren (und später natürlich aus dem Feuerstein selbst Funken zu schlagen).

Damit konnte sich die Horde um das seit 50.000 v. Chr. nachweisbare Lagerfeuer scharen, das der Säbelzahntiger und andere wilden Bestien scheuten, spätestens seit diese mit der brennenden Fackel eines tapferen Homo sapiens Bekanntschaft gemacht hatten.

Und mit dem gesteigerten Sicherheitsgefühl wurden Energien frei, die bisher dem reinen Überlebenskampf gewidmet waren. So wurde Zivilisation überhaupt erst möglich. Und man konnte sich etwas einfallen lassen, um Licht bequemer bewahren zu können. Das brennende Scheit wurde ab 8.000 v. Chr. durch Schalenlampen ersetzt, die wiederum um 700 v. Chr. den Tonlampen wichen.

Antike römische Öllampe mit Gladiatorenmotiv; Foto: BS Thurner Hof (CC BY-SA 3.0)

Antike Öllampe als Lichtquelle

Man wollte aber sicher auch in finsterer Nacht im Freien bei Wind und Regen eine Lichtquelle benützen können. Dafür war eine Schutzvorrichtung für die Flamme der Kerze oder der Öllampe notwendig. Man setzte diese daher in ein metallenes Gestell, dessen Seitenflächen zuerst durch dünn geschabte Hornplatten oder später aufwändiger durch Glas- oder Kristallscheiben gebildet waren. Die Laterne war geboren, wie sie auch unser „Eremit“ trägt, nachdem er die ursprüngliche Sanduhr gegen eine solche getauscht hat.

Mit einer solchen Beleuchtung kann man sich selbst zurechtfinden (im Ziehen der eigenen Lebensbilanz und der Schlussfolgerungen daraus), anderen den Weg weisen (durch Übermitteln der selbst gewonnenen Einsichten), oder Signale in die Ferne senden. So weit, so konkret.

Mehrdeutigkeiten und Symbolgehalt

Jede Tarotkarte lebt aber von dem hohen, meist auch mehrdeutigen und oft sogar nicht nicht einmal voll ausschöpfbaren Symbolgehalt ihrer Bilder. Und so stellen sich auch bei der Laterne, oder überhaupt beim erhellenden Licht beim Betrachter vielleicht verschiedenste Atavismen, Assoziationen, Konnotationen, Erinnerungen und Empfindungen ein.

Lebt in ihm noch ein Funke der einst so mächtigen Kultur des christlichen Abendlandes, dann wird in ihm vielleicht sogar noch eine vage Reminiszenz an das Christuswort (Johannes 8,12) auftauchen:

„Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“

Das Christentum als Lichtkultur

So wurde das Christentum nahezu zu einem Lichtkult, der sowohl das Jahres- als auch das Lebensbrauchtum beeinflusste. Das begann einerseits schon in der dunkelsten Zeit des Jahres.

Ich denke zunächst an den nach wie vor lebendigen Kinderbrauch, am Martinstag mit Papierlaternen einen Umzug zu veranstalten.

Nicht vergessen sollte man, dass am 13. Dezember das Fest der hl. Lucia (deren Name ja – abgeleitet von lat. „lux“ – „Licht“ bedeutet) im Kirchenkalender steht, denn vor der Einführung des gregorianischen Kalenders im Jahr 1582 lag das Datum der Wintersonnenwende auf dem 13. Dezember, und da gewann das Licht wieder allmählich die Vorherrschaft über die Dunkelheit.

Allgemein bekannt sein dürfte, dass es in Schweden jährlich ein großes Fest zu diesem Termin gibt, in dessen Zentrum die „Luzienbraut“ steht, meist die älteste Tochter des Hauses, die eine große Lichterkrone trägt. 


Nach wie vor verbreitet ist der Adventkranz, ein mit seinen nach und nach an den Adventsonntagen entzündeten vier Kerzen auf das Weihnachtsfest ausgerichteter „Zeitmesser“.

Beinahe ausgestorben ist freilich der vor allem in der alpinen bäuerlichen Welt üblich gewesene, manchmal bei sehr entlegenen Bauernhöfen tatsächlich Stunden beanspruchende und durch tiefen Schnee führende Gang (übrigens mit der „Mettenlaterne“) zur Christmette (das Wort kommt von lat. (hora) matutina = Morgenstunde), dem Gottesdienst in der Nacht des „Heiligen Abend“. 

Über die vielen Kerzen auf dem Weihnachtsbaum brauchen wir sicher kein  Wort zu verlieren, wohl aber dürfte der Brauch des „Glöcklerlaufens“ am 5. Jänner im Salzkammergut nicht allgemein bekannt sein.

Maria Lichtmess

Wie der Name schon sagt, ist „Maria Lichtmess“ (1. Februar) das nächste Fest mit  Lichtsymbolik.  In den Gottesdiensten werden alle Kerzen, die in der Kirche für das Jahr benötigt werden, gesegnet.

Mancherorts bringen auch Gläubige ihre Kerzen mit und lassen sie segnen. Auch in der Wirtschaft hatte "Lichtmess" seine Bedeutung: Die Handwerker hörten an dem Tag auf, bei Kunstlicht zu arbeiten. Also haben wir so etwas wie ein „Fotonegativ“ zu den bisherigen Notwendigkeiten, in der dunklen Zeit von Menschenhand gemachtes Licht zu entzünden, vor uns.

Zur Feier des Tages gaben die Meister ihren Gesellen und Lehrlingen den Nachmittag frei.

Nach biblischem Bericht war es aber vor allem der Termin, zu dem nach den jüdischen Religionsvorschriften die männliche Erstgeburt im Tempel symbolisch Jehova geweiht werden sollte.  Auch Maria befolgt diesen Brauch und kommt mit Jesus in die heilige Stätte. Dort wartet der greise Simeon auf die Erfüllung einer Weissagung, dass er nicht eher sterben werde, bis er den Messias gesehen habe.

Als Maria ihm schließlich das Jesuskind in die Arme legt, stimmt er ein Loblied an: "Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein LICHT, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel." Auch die anwesende verwitwete 84-jährige Prophetin Hanna preist Jesus. Unter anderem hat Rembrandt mehrfach diese Szene ergreifend festgehalten.


Lichterschwemmen

Bereits im 4. Jahrhundert feierte die Kirche in Jerusalem das Fest. Mit Blick auf den Lobgesang des Simeon kam es im 7. Jahrhundert zu Lichterprozessionen.

Im Kärntner Ort Bad Eisenkappel hat sich am Abend vor Maria Lichtmess (1. Februar) ein Brauch erhalten, bei dem in tagelanger Arbeit aus Papier und Holz gefertigte Kirchlein in verschiedenen Größen und Bauweisen auf eine Stange gesteckt und in einer bunten Lichterprozession unter lautem Geschrei durch den Ort getragen und schließlich den Fluten des Vellachbaches übergeben werden.

Der Überlieferung nach wurde dieser Brauch zur Erinnerung an eine große Hochwasserkatastrophe eingeführt, bei welcher die ganze Ortschaft überschwemmt wurde und nur die lokale Kirche Maria Dorn verschont blieb. Die Bewohner gelobten daraufhin, eine genaue Nachbildung der Kirche  aus Holz zu bauen und diese dem Wasser zu opfern, worauf sich die Flut zurückgezogen haben soll.

Das ist eine schöne Erklärung für den jährlichen Brauch, doch  ist sie absolut unvollständig. Denn man weiß, dass einst in mehreren Gegenden ein solcher Brauch des „Lichterschwemmen“ typischerweise am Tag der Luzia, also der Lichtheiligen schlechthin, abgehalten wurde.

Freilich wurde er meist auch auf eine Überschwemmungskatastrophe zurückgeführt – vermutlich weil man einen triftigen Grund für den nicht geringen Aufwand eines solchen Brauches gesucht hatte. Auch wenn ein ganz anderer Termin gewählt wurde, stand doch das „Licht“ im Vordergrund. So geschehen zu Prag. Bekanntlich wurde dort der hl. Nepomuk in der Moldau ertränkt. Als Grund dafür wurde von der katholischen Kirche die Legende verbreitet, er habe gegenüber dem König Wenzel, der seine Gattin, die bei Nepomuk zur Beichte gewesen war, der Untreue verdächtigte, das Beichtgeheimnis als höchstes Gut sogar über sein eigenes Leben gestellt, das er daraufhin einbüßte.

Nüchterne moderne Geschichtswissenschaft sieht nun eher ein weltlich-kirchliches Machtgerangel als Grund für die Hinrichtung. Der katholischen Kirche passte aber die Begründung mit dem Beichtgeheimnis viel besser in ihr Konzept, weil es sich zur Bekämpfung des Protestantismus eignete. Man konnte nicht oft genug an diesen aufrechten Schweiger erinnern, und so kommt es, dass wir heute noch in zumindest früher katholischen Landen die Statue des Heiligen aus Pomuk auf so vielen Brücken sehen. Fast immer umgibt sein Haupt ein sternenbesetzter Heiligenschein, womit wir beim springenden Punkt wären. 

Es gibt nämlich die Legende, dass man seinen Leichnam im Fluss erst auffinden konnte, als fünf hell leuchtende Sterne auf die Stelle hinwiesen. Daraus entwickelte sich der Brauch, am 16. Mai, dem tschechischen Gedenktag des Märtyrers, Lichter die Moldau hinabschwimmen zu lassen.

Goethe war von diesem Brauch so beeindruckt, dass er am 15. Mai 1820 in Karlsbad folgendes Gedicht schrieb:

Kinder singen auf der Brücken,
Glocke, Glöckchen fügt vom Dome
Sich der Andacht, dem Entzücken.
Lichtlein schwinden, Sterne schwinden;
Also löste sich die Seele
Unsres Heilgen; Nicht verkünden
Durft er anvertraute Fehle.
Lichtlein, schwimmet! Spielt, ihr Kinder!
Kinderchor, o singe, singe!
Und verkündiget nicht minder,
Was den Stern zu Sternen bringe!"

Dieses Gedicht Goethes wurde übrigens von Hugo Wolf vertont. Ich kann eine remasterte Aufnahme von Elisabteth Schwarzkopf in YouTube empfehlen. (https://www.youtube.com/watch?v=nNRwUu14suE).

Lichterschwimmen zu Ehren von Nepomuk findet vor allem in Tschechien aber auch im süddeutschen Raum statt, etwa in Würzburg und Bamberg.


Gedenktag des Hl. Blasius

Kerzen spielen auch am 2. Februar, dem Gedenktag des heiligen Märtyrers Blasius, eine Rolle, da sie in seiner Legende vorkommen. Er ist der Patron gegen Halsleiden, weil er zu Lebzeiten einen Jungen, der an einer Fischgräte zu ersticken drohte, gerettet hatte. Daher kann man sich seit dem 16. Jahrhundert an diesem Tag den kirchlichen Blasiussegen holen, bei dem zwei geweihte Kerzen gekreuzt vor den Hals gehalten werden.

Hans Memling: Passionsaltar (Deckel), 1491, Museum für Kunst- und Kulturgeschichte in Lübeck

Es wurde schon darauf hingewiesen, dass nun die Tage länger werden und man daher nicht mehr so sehr auf künstliche Lichtquellen angewiesen war. Laternen, Lampen und Kerzen kommen in der Helligkeit nicht mehr so richtig zur Geltung. Aufmerksam wird man nun eher auf große brennende Holzstöße, Osterfeuer auf Bergen oder später Sonnwendfeuer. Ein Ereignis zählt jedoch aus meiner Sicht zu den schönsten Kerzenbräuchen überhaupt, und zwar in der Nacht vom Karsamstag auf den Ostersonntag. 

Es geht um die „Osterkerze“, die an einem brennenden Holzstoß vor der Kirche entzündet wird, um dann in das vollkommen finstere Gotteshaus getragen zu werden, wobei der Diakon drei Male „Lumen Christi“ („Licht Christi“) singt, während die geweihte Flamme zuerst an die weitere Geistlichkeit und dann an alle Gläubigen, die Kerzen mitgebracht haben, verteilt wird. Für den sensiblen Laien – obwohl noch sehr viel Liturgie folgt – jetzt schon „Auferstehung“.

Wieder wird auf Christus als „Licht der Welt“ angespielt. Gelegenheit, den Hinweis auf ein berühmtes Gemälde nachzuholen: „The Light of the World“ (1853/54) von William Holman Hunt. Der britische Maler war auch einer der Gründer der Gruppe der Präraffaeliten.

Christus ist hier auf dem in der Londoner St. Paul's Cathedral befindlichen Gemälde wie unser „Eremit“ mit einer Laterne abgebildet, und er klopft bei allen an, die verzweifelt, mühselig, beladen und ohne Hoffnung in Düsternis leben, und möchte ihnen sein Licht bringen.

Unwillkürlich fällt mir dabei auch die Vertonung von Jesaia 9/2 durch Georg Friedrich Händel als Bassarie in seinem „Messias“ ein: „Das Volk, das im Dunkeln wandelt, es sieht ein großes Licht“.


Lichsäule, Stadtfriedhof Wels; Foto: Tigerente (CC BY-SA 4.0)

Ich habe schon erwähnt, dass nun die „Sommerzeit“ mit ihren langen Stunden an Tageslicht regiert. Doch auch dies geht vorüber, der Tag wird wieder kürzer.

Und so kommt es, bevor das Kirchenjahr zu Ende geht, noch einmal zu einem großen Lichterfest zu Allerheiligen/Allerseelen – diesmal freilich nicht für die Lebenden, sondern für die Toten, auf deren Gräbern Kerzen und Laternen brennen.

Denn wie heißt es schon im Text des „Requiems“: „Et lux perpetua luceat eis“ („Das ewige Licht leuchte ihnen“). Im Mittelalter wollte man, dass auf dem Friedhof immerdar ein Licht den Seelen der Verstorbenen leuchten möge.

So kam es zu den Totenleuchten, auf Friedhöfen errichteten freistehenden Bauwerken, die in ihrem oberen Teil eine mehrseitig geöffnete Laterne enthalten.

Licht spielte aber nicht nur im Jahresbrauch eine große Rolle, auch den Lebenslauf eines Christen begleiteten brennende Dochte.

Das begann bei der Taufkerze und setzte sich bei der Erstkommunion fort. Für die allfällige Eheschließung ist wieder die Hochzeitskerze modern geworden – nicht selten unter Heranziehung alter volkskünstlerischer Gießformen aus alten Wachsziehereien.

Es gibt auch etwa Kerzen zur „Goldenen Hochzeit“. Und als das Sterben noch nicht gesellschaftlich tabuisiert war, brannte bei den letzten Atemzügen auch eine Sterbekerze.


Fest steht bei dieser Tarot-Karte des Eremiten, dass er sich zurückgezogen hat, um nachzudenken. Vielleicht erinnert ihn das Licht seiner Laterne an seine Kindheit, die reifen Höhepunkte seines Lebens, seine momentane Gegenwart, wegen der er ja auch nicht zuletzt ins Grübeln gekommen ist, und als tiefgründiger Mensch wird er natürlich auch das unausweichliche Lebensende in sein Nachsinnen einbeziehen, denn die herabbrennende Kerze in seiner Laterne (oder – wie bereits erwähnt – die Sanduhr in früheren Kartenversionen) wird ihn an die letzten Dinge erinnern.

Vielleicht hat er ja das Buch von Raymond A. Moody über Nahtoderfahrungen gelesen. Immer scheint ein Tunnel eine Rolle zu spielen, der zu einem großen Licht bzw. zu Lichtwesen führt. Aber natürlich waren diejenigen, die solche Erlebnisse hatten, nicht wirklich tot, sondern kehrten ins Leben zurück. Vielleicht fällt unserem Einsiedler aber auch ein Bild ein, das vor über 500 Jahren gemalt wurde, allerdings von einem, dessen fantastische Visionen niemals übertroffen wurden: Hieronymus Bosch.

Die Symbolik des Stabs

Bleiben noch zwei Attribute des Eremiten zu interpretieren. Da wäre zunächst sein Stab. Bei unserer vorliegenden Karte aus dem Smith-Wait-Tarot steht der Stock senkrecht, fest in den Schnee gerammt. Auch die Füsse stehen parallel. Der Blick ist fest auf diesen Standort gerichtet. Er ist zweifelsfrei noch in Gedanken versunken.

Betrachtet man hingegen den Eremiten im ganz frühen Visconti-Este-Tarot, so ergibt sich ein anderer Eindruck. Der Stab ist nach vorne gerichtet, der linke Fuß zeigt nach voraus. Kein Zweifel, die Gestalt wird sich in Bewegung setzen.

Auch der „Ermite“ des Oswald Wirth nimmt eine ähnliche Position ein.

Für mich kein Zweifel. Diese Einsiedler wollen sich in Bewegung setzen. Genau wie Zarathustra wollen sie ihre in langer Askese und Einsamkeit gewonnenen Einsichten weitergeben.

Und Wirth (Tarot der Meister, S. 112) scheint mir recht zu geben, wenn er schreibt:

Sein Gang ist vorsichtig. Mit einem Bambusstab mit sieben mystischen Knoten sondiert er das Terrain, auf dem er langsam, aber ununterbrochen fortschreitet … Der Eremit tastet den Boden nicht als Blinder ab, ein sanftes Licht beleuchtet seine unermüdliche und sichere Wanderung.“


Wie wird es ihm bei diesem zweiten Teil seiner Bestimmung ergehen. Wiederum wie Zarathustra, der – verspottet – die Massen mied, um sich Gleichgesinnte als Weggenossen zu erwählen.

Auch Oswald Wirth scheint dieser Meinung zu sein, denn er schreibt: „Er [der Eremit] wendet sich nicht an die Massen, und er lässt nur die Wahrheitssucher nahen, die es wagen, bis in seine Einsamkeit vorzudringen. Ihnen vertraut er sich an, nachdem er sich überzeugt hat, dass sie fähig sind, ihn zu verstehen. Ein Weiser wirft seine Perlen nicht vor die Säue.“

Hierzu fallen mir auch noch die beiden ersten Zeilen aus Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht“ ein:

„Sagt es niemand, nur den Weisen,
weil die Menge gleich verhöhnet ...“

Darstellung wahrscheinlich von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1780er): „Diogenes sucht einen Menschen“

Alle Weisen bleiben nicht an der Oberfläche hängen, sie trachten, in die Tiefe hinabzusteigen. Und Wirth bemüht zurecht noch einen Weisen, der auf einer prüfenden und demaskierenden Suche ist: Diogenes, letztlich auch so etwas wie ein Eremit, der sich statt in eine abgeschiedene Höhle oder beinahe unerreichbare Insel in sein Fass zurückzieht.

Von dort zieht er am helllichten Tag mit seiner brennenden Laterne aus, um auf die belebte Agora, den betriebsamen Marktplatz, zu gehen. Die Leute halten ihn (wie auch sonst meistens) für verrückt und fragen ihn, was er vorhabe. Der Syrakusaner antwortet: „Ich suche einen (wahren und ehrlichen) Menschen!“

Eremiten als Säulenheilige

Hier blicke ich noch einmal in den Rückspiegel – in die Zeit des frühen Christentums, als einige Einsiedler in die Wüste aufbrachen, um ganz sicher vom seichten Treiben der Geschäftigen abgeschottet zu sein.

Da gab es aber noch eine andere Gruppe, die sich eigentlich ganz gegenteilig verhielt, die Säulenheiligen. So wurden zunächst in der Ostkirche ab dem 4./5. Jahrhundert  Mönche bezeichnet, die zum Zeichen besonderer Askese ihr Leben auf dem Kapitell einer Säule zubrachten.

Der erste war Symeon Stylites der Ältere. Er war bereits, bevor er seinen Hochstand einnahm, für extreme asketischen Praktiken bekannt (tagelanges Knien, bis zur Brust eingraben, nur einmal wöchentlich Nahrung zu sich nehmen).

Seine Säule stand wenigstens noch etwas abseits auf einem Berg, doch erregte er durch seine Lebensweise enormes Aufsehen und gewann damit auch großen Einfluss auf Gesellschaft und Politik, Sogar Kaiser Theodosius suchte ihn auf, um seinen Rat zu erbitten. Das eigentümliche Verhalten Symeons führte daher später auch zu harscher, aber wohl berechtigter Kritik.

Die folgende Ikone zeigt zwar angeblich Symeon, man sieht aber den Säulenheiligen inmitten regen weltlichen Treibens. Das galt gewiss auch für die zahlreichen Nachfolger, die gewiss auch Aufsehen erregen wollten, unter dem Motto: Seht her, wie fromm wir sind.

Sie fallen wohl unter das Christus-Verdikt (Lukas 6/46), das besagt, dass keinesfalls alle Menschen, die sich fromm gebärden, an Gott glauben und seine Gebote befolgen würden.

Auch wenn sie ›Herr‹ zu ihm sagen, heißt das noch lange nicht, dass sie ins Himmelreich kommen. Wenn ich mich recht erinnere, dann ist „Eitelkeit“ eine Hauptsünde (erhöht auf einer Säule kann ich ja von allen Seiten richtig bewundert werden).

Da war Diogenes dagegen wenigstens ein ehrlicher Zyniker, sprich Kyniker (abgeleitet von griechisch kyon „der Hund“), der seine Bedürfnislosigkeit bewies, da er in seiner Tonne wie in einer Hundehütte lebte, und seinem ethischen Skeptizismus Ausdruck verlieh, indem er alles hinterfragte und bezweifelte, auch dass er von ehrlichen Menschen umgeben sei.

Der Eremit und sein Bart

Nun komme ich zu den letzten Merkmalen des „Eremiten“ unserer Tarotkarte und somit auch zum letzten Kapitel meines Kommentares.

Da wäre der lange graue Bart als Zeichen des hohen Alters. Ist er gepflegt, wie bei unserem Einsiedler, dann drückt er auch Würde, Ehrbarkeit und Ansehen aus. Eine solche Assoziation geht in diesem Fall auf die griechische Antike zurück, als ein üppiger und langer Bart ein Zeichen von Männlichkeit und sogar großer Intelligenz war. Die bis heute unsterblichen Philosophen, aber auch der oberste Gott Zeus wurden bärtig dargestellt.

Hätten unsere „Eremiten“ hingegen wilde verfilzte Bärte, würden wir sie nicht achten und uns zum Vorbild nehmen, sondern würden uns an dämonische Berggeister (wie Rübezahl oder Altvater) erinnert, deren Vorbilder wohl seit dem Mittelalter die „Wilden Männer“ waren, natürlich auch  Fantasiegestalten, die aber bei Umzügen und Maskeraden leibhaftig dargestellt wurden (vgl. auch meinen Kommentar zum Wagen im Tarot der weisen Frauen: „Meisterschaft“). 

Goethe brachte beide Gestalten in seinem „Faust 2“ zusammen:

Die wilden Männer sind s’ genannt,

Am Harzgebirge wohlbekannt;

Natürlich nackt in aller Kraft,

Sie kommen sämtlich riesenhaft.

Den Fichtenstamm in rechter Hand

Und um den Leib ein wulstig Band,

Den derbsten Schurz von Zweig und Blatt,

Leibwacht, wie der Papst nicht hat.  

Bild aus: Joseph Strutt, The sports and pastimes of the people of England: Including the rural and domestic recreations, may games, mummeries, shows, processions, pageants, and pompous spectacles, from the earliest period to the present time, Printed for Thomas Tegg, 1838; p. 378

Alexander Pfohl: „Rübezahl, der Herr der Berge“, um 1941, Aquarell und Pastell, © Foto: Angelika Krombach/Schlesisches Museum Görlitz

Der Eremit und seine Bekleidung

Abschließend noch zur Bekleidung. Der Eremit unserer Karte trägt einen schweren, dunkelgrauen Kapuzenmantel.

Keinesfalls verschlissen, wie man sich oft das Gewand von Anachoreten vorstellt, weil sie auf Äußerlichkeiten nicht den geringsten Wert legen, den Kopf auch nicht frei für irdische Belanglosigkeiten haben, und überdies ohnehin über zu wenig finanzielle Mittel verfügen, um sich passabel ausstaffieren zu können.

Anderseits würde man der Figur auch nicht gerecht, würde man annehmen, sie habe es geschafft, wegen der Kälte aufgrund der Schneelage an ein so warmes Kleidungsstück heranzukommen. Das wäre auch nicht puritanischer Philosophen Art, denn die vertrauen darauf, dass ohnedies bald alles „Schnee von gestern“ sein wird.

Natürlich kommen einem als erstes wohl Mönche in den Sinn, wenn wir an einen Kapuzenmantel denken.

Die Kapuziner sind ja sogar danach benannt – im übrigen tragen auch sie einen langen Bart. Dass sie mit einem Strick (Zingulum, Kordel) umgürtet sind, ebenso wie die Franziskaner, aus denen sie sich verselbständigt haben, erinnert uns noch einmal an den „Eremiten“ im „Charles-VI-Tarot“ (siehe oben).

Eine Kapuze gehört auch zum Habit der Benediktiner, Zisterzienser, Dominikaner, Kamaldulenser, Hieronymiten und der Barmherzigen Brüder.

Und nun kam mir gemeinsam mit dem zum hohen Alter des Eremiten passenden grauen Gewand ein merkwürdiger Einfall, der so gar nicht zu den Mönchen passte, den ich aber nicht mehr aus dem Kopf brachte. Ausgelöst war die Assoziation durch eine Stelle in Richard Wagners Oper „Walküre“, wo von einem „Greis in grauem Gewand“ die Rede ist, der sich natürlich als der höchste Germanengott Odin/Wotan entpuppt.

Dieser stützt sich zwar auf keinen Wanderstab, aber auf einen langen Speer. Das Volk stellte sich ihn allerdings mit einem breitkrempigen, ins Gesicht gezogenen Schlapphut vor, nicht mit einer Kapuze.

Besonders merkwürdig ist, dass das Gewand des Gottes als so charakteristisch eingeschätzt wurde, dass es zu einem seiner Beinamen (Tabunamen?) wurde:  „Hackelberend“, was nichts anderes bezeichnet als den „Gewandträger“!


Freilich bin ich weit davon entfernt, hier eine Brücke zu unserem „Tarot-Eremiten“ zu schlagen. Und natürlich auch nicht in Bezug auf noch ein anderes ganz altes mythisches Wesen, das auch nach seinem Kapuzenmantel benannt wurde: den „genius cucullatus“ (weitgehend ident mit dem „Telesphorus“).

Er ist ein zwergenhafter keltischer Kapuzendämon und Schutzgeist (bei Telesphorus kommt noch die Funktion eines Heilers hinzu).

Der Name leitet sich von der Kapuze ab (lat. cuculla), mit dem dazugehörigen langen Mantel die klassische Reisekleidung der Gallier. Auf Weihereliefs werden sie auch als bärtige Zwerge dargestellt.

Die Forschung sieht diese Genii daher auch als Vorläufer der Gartenzwerge und des Sandmännchens. Zuständig sind diese ambivalenten Geister auch einerseits für Fruchtbarkeit, anderseits für die Begleitung ins Jenseits (Psychopompoi), wozu noch einiges hinzuzufügen wäre. Doch sehe ich, dass ich mich immer mehr von der Tarotfigur entferne und lasse es lieber sein.

Telesphorus, 3. Jh. n. Chr. (Antikensammlung Würzburg); Foto: Marcus Cyron (CC BY-SA 3.0) Quelle

Genius cucullatus; 2. bis 1. Jh. v. Chr.; Foto: Christoph Becker; Quelle

Die Legende über den hl. Christophorus

Aber beim besten Willen kann ich nicht auf die folgende Überlieferung verzichten, da mich das folgende Bild in Hinblick auf unseren Eremiten sehr gepackt hat (es gibt übrigens mehrere solche Darstellungen). Für mich persönlich ist es ein weiterer Beweis, dass ein Eremit es sehr wohl auch als seine Aufgabe ansehen kann, sein in der produktiven Einsamkeit gewonnenes Wissen, die ihm zuteil gewordenen Offenbarungen und Visionen an die Aufnahmebereiten weiterzugeben.

Es handelt sich um eine Jean Pichore zugeschriebene Buchillumination, die sich in der Oxforder Bodleian Library befindet. Die aus Frankreich stammende lateinische Handschrift wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts verfasst. 

Es handelt sich um die Legende über den hl. Christophorus (sein Name und seine Funktion als Reisepatron ist wenigstens noch so manchem Autofahrer, der sein Fahrzeug weihen ließ, geläufig). Um die Rolle des Einsiedlers zu verstehen, ist es unerlässlich, diese Legende zur Gänze wiederzugeben:

„Christophorus war ein kräftiger und mutiger Mann, so groß und stark wie ein Riese. Er wollte dem mächtigsten Herrn der Welt dienen, deshalb machte er sich auf die Suche nach ihm.

Als erstes fand er den König eines gewaltigen Königreichs. Christophorus stellte seine Kräfte unter die Herrschaft dieses mächtigen Mannes. Eines Tages kam ein Musikant an den Hof des Königs. Eines seiner Lieder nannte den Teufel beim Namen.

Darüber erschrak der König. Christophorus sah, dass dieser Angst hatte. Deshalb verließ er ihn, um dem Teufel zu dienen, der noch größer sein musste als der König.

Eines Tages kam er mit dem Teufel an einem Christuskreuz vorbei. Der Teufel machte einen weiten Bogen darum.

Christophorus war verwundert, dass der scheinbar mächtigste Herr der Welt dem Kreuz auswich. Der gekreuzigte Christus jagte dem Teufel große Angst ein.

So verließ Christophorus auch den Teufel, um Christus zu suchen, der sogar noch mächtiger sein musste.

Lange Zeit suchte er ihn. Ein EINSIEDLER sagte ihm, er solle fasten und beten. Aber das gelang dem bärenstarken Christophorus nicht.

So zeigte der EINSIEDLER ihm einen anderen Weg zu Christus:

„Kennst Du den großen Fluss, in dem viele Menschen umkommen, wenn sie hinüber wollen?

Du bist groß und stark, Christophorus. Setze Dich an den Fluss und trage Menschen hinüber und warte. Ich wünsche Dir, dass Du Christus dort begegnest.“

Christophorus antwortete:

'Das kann ich tun. Dadurch will ich ihm dienen.'

Christophorus baute eine Hütte und wartete am Fluss. Viele Jahre lang trug er Menschen sicher durch den Strom an das andere Ufer. Dabei stützte er sich auf seinen Stab. Eines Tages hörte er eine leise Stimme:

Er erblickte ein Kind, das um Hilfe bat. Christophorus trug es auf seinen Schultern durch den Fluss. Schritt für Schritt wurde es ihm schwerer und schwerer. In der Mitte des Flusses drohte er zu ertrinken.

Mit großer Mühe schaffte er es an das andere Ufer. Er wandte sich dem Kind zu:

„Du warst mir so schwer, als ob ich die ganze Welt auf meinen Schultern trug."

Das Kind antwortete ihm:

"Du hast mehr als die ganze Welt auf den Schultern getragen, Christophorus. Du hast den mächtigsten Herrn getragen, nämlich den, der Himmel und Erde erschaffen hat. Denn ich bin Christus, dem du in dieser Arbeit dienst. Als Zeichen nimm deinen Stab und stecke ihn neben deiner Hütte in die Erde. Er wird am Morgen blühen und Früchte tragen."


Noch ein greiser Einsiedler würde mir einfallen, auf dessen Rat wegen seiner großer Weisheit und Integrität selbst ein Landesfürst hörte, womit eine neue Chance eröffnet wurde, alles wieder ins rechte Lot zu bringen.

Es wäre der Eremit aus Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“. Dies könnte vielleicht eine Anregung sein, sich dieses Meisterwerk deutscher Romantik wieder einmal anzuhören.

Eine kostenlose alte Aufführung nach echtem Schrot und Korn (nur Anhängern von extremem Regietheater rate ich davon ab) würde auf YouTube geboten: https://www.youtube.com/watch?v=tzoxWIXZ9KU

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