Das Ahnenpfad Tarot
Das Ahnenpfad Tarot von Julie Cuccia-Watts ist besonders, weil es erstmals die vier Reihen der kleinen Arkana auf vier Völkergruppen anwendet: indigen (Erde/Scheiben), asiatisch (Luft/Schwerter), nordisch/keltisch (Wasser/Kelche) und ägyptisch (Feuer/Stäbe).
Es ist eines meiner Lieblingsdecks und ich hätte nie gedacht, dass die deutsche Version einmal unerschwinglich teuer werden würde! Die englische Version hingegen wurde neu aufgelegt und ist recht günstig zu erwerben.
Der Künstler hat immer Recht.
Ein Beitrag von Gerhard Baumann.
Befasst sich der Künstler aus innerem Drang oder wird dieser mit den Tarotkarten beauftragt, dann hat er das Recht, seine Einstellung zu deren Mystik und Magie in seinem Stil zum Ausdruck zu bringen. Und er hat das Recht, sich zu Schönheit und Harmonie zu bekennen, aber natürlich auch zum Widerständigen, Widersprüchlichen, zum „Gegen-den-Strich-Bürsten“ bis hin zum scheinbar Hässlichen und Abstoßenden. Kunst hat nicht nur zu unterhalten, sondern immer wieder auch aufzurütteln.
Auf einem anderen Blatt steht freilich, ob uns etwas gefällt, oder aber nicht. Das gilt sogar für ganz große, überragende Kunst. Es mag durchaus Leute geben, denen bei dem (übrigens von mir sehr geschätzten) Rembrandt-Bild vom ausgeweideten Ochsen der Gestank von Schlachthäusern in die Nase steigt, oder sie ein Brechreiz beim abgeschlagenen Medusenhaupt von Rubens überkommt (dessen hohe bildnerische Artistik ich einfach auch bewundern muss).
Rembrandt van Rijn: "Der geschlachtete Ochse"
P. Rubens: "Haupt der Medusa"
Und so ist es beim Befragen der Tarotkarten eben auch das Recht einer und eines jeden, sich jenes Deck auszusuchen (wobei man manches – wenn überhaupt – leider nur mehr mühselig in Antiquariaten wird suchen müssen), das sie/ihn auch optisch anspricht.
Doch nun endlich zum Wagenlenker auf der VII des „Ancestral Path Tarot“, für das ich der Einfachheit halber in der Folge seinen deutschen Namen „Ahnenpfad Tarot“ verwenden werde. In meinen Augen hat hier 1995 die Künstlerin Julie Cuccia-Watts durch die Darstellung eines eindeutig römischen Soldaten auf einem Streitwagen das Heldenhafte, aggressiv Vorwärtsstürmende des zu Neuem Aufbrechenden hervorragend getroffen – etwa gegenüber der Gestaltung des m.E. ruhig und überlegen vorplanenden kaiserlichen Wagenlenkers auf der 7. Karte des „Sola-Busca-Tarots“.
Dazu passen natürlich auch die beiden Löwen als Zugtiere, natürlich einer dunkel, einer hell. Diese antagonistische Färbung, die bei den dem „Wagen“ vorgespannten Tieren oder Wesen immer wieder vorkommt (vgl. etwa die Pferde im „Hexen-Tarot“ oder die Sphinxen im „Rider-Waite-Smith-Tarot“ ebenso wie im „Golden-Wirth-Tarot“), kann man wohl sprachlich nicht farbiger beschreiben, als Anna Rathkolb bei ihrer Deutung der beiden Esel im „Kinder-Tarot“, wo sie auf „unsere zwiegespaltenen Natur“ Bezug nimmt, wobei das helle Tier jene Tendenz in uns symbolisiert, „die alles richtig machen will“, „während“ das dunkle animalische Wesen „jene Tendenz in uns ist, die wir gewöhnlich als unseren 'inneren Schweinehund' bezeichnen.“
Vielleicht ist der schwarze Löwe für unseren römischen Soldaten darüber hinaus sogar auch sein Jähzorn, seine unbändige Wut, die ihn schon oft zum blinden „Schlagetot“ gemacht hat. Vielleicht trägt er seinen Schild auch deshalb direkt über dieser Bestie, weil er sich auf seinen neuen Wegen vor diesen seinen miesen Charaktereigenschaften schützen möchte?
Diese ausufernde einleitende Suada entspringt meinem Appell (den ich immer wiederholen werde), sich vielleicht gelegentlich auch kurz der jeweiligen ästhetischen Bildgestaltung der Karten zu widmen, zur Einstimmung auf den eigentlichen divinatorischen Akt.
Ich verbinde mit solchen Bildbetrachtungen freilich auch noch etwas Verrücktes. Sie regen mich – nicht immer, aber auch nicht ganz selten – dazu an, neues, ganz konkret profanes Wissen zu erwerben, oder altes Halbvergessenes aufzufrischen, sowie im Lauf der Zeit falsch Erinnertes zu korrigieren. Auch altes Schulwissen muss sich nicht selten neuen, fortschrittlichen Erkenntnissen beugen.
Im vorliegenden Fall lautete das mich anstachelnde Stichwort: „römischer Legionär“. Ja, da habe ich natürlich eine – eher auf einem Gemeinplatz wohnende – Vorstellung mit mir herumgetragen, gewonnen aus filmischen Monumentalschinken, oder aus der Erinnerung an die lästigen Statisten vor dem römischen Kolosseum, mit denen man sich mehr oder weniger „heroisch“ fotografieren lassen kann, um dann unverschämt abkassiert zu werden, was übrigens auch der Verwaltung der „Ewigen Stadt“ immer wieder ein Dorn im Auge ist.
Also war die in Rede stehende Karte für mich ein willkommener Anlass, mich nach wissenschaftlich fundiertem Wissen rund um das römische Militär umzusehen. Ei, da blieb kein Stein auf dem anderen – auch nicht in Zusammenhang mit unserem antiken Tarot-Wagenlenker. Das war ein Spaß – freilich, bitte keinesfalls auf Kosten der Künstlerin, die in ihrer Fantasie, wie schon erwähnt, die Hauptaussagen der Karte trefflich auf den Punkt brachte, obwohl so gut wie gar nichts mit der historischen Realität übereinstimmt. Egal, ich wusste ja vor kurzem das alles auch nicht, was ich jetzt hier unterbreite.
Quelle: Everett Collection: https://www.tabletmag.com/sections/arts-letters/articles/miracle-ben-hur
Zunächst schickten die Römer mit sehr großer Wahrscheinlichkeit keine Kampfwägen in die Schlacht (wenngleich es über diesen Punkt im Internet noch immer hitzige, aber laienhafte Debatten gibt). Stattdessen deutet alles darauf hin, dass der unterhaltungssüchtige Populus Romanus sich (wie vorher schon die Etrusker) an Griechenland orientierte, wo das von Pferden gezogene Gefährt immer schon als Rennwagen bei Wettbewerben diente, so bei den Panhellenischen Spielen, zu denen natürlich vor allem auch die Olympiaden gehörten.
Man schuf dafür geeignete Bahnen, welche die Römer „Circus“ nannten. Es braucht uns daher wohl kaum zu wundern, dass ihre Nachfahren, die Italiener, Autos wie ihren Ferrari auch eigene Karosserien verpassten und so viele Pferdestärken verliehen, dass sie „Formel 1“-tauglich wurden. Nichts Neues unter der Sonne, denn auch schon die Römer stiegen für ihre Wettrennen von der von zwei Pferden gezogenen „Biga“ auf die vierspännige „Quadriga“ um.
Die Älteren unter uns werden wohl noch die nervenaufreibenden Rivalitätsszenen aus dem US-amerikanischen Monumentalfilm „Ben Hur“ aus dem Jahr 1959 vor Augen haben. Der ungeheuer aufwendige Streifen stellte zahlreiche Produktionsrekorde auf und wurde mit 11 Oscars ausgezeichnet.
Ein Wagenlenker auf einem Rennwagen ist also üblich, wenn aber ein Soldat diesen Platz einnehmen will, dann ist er deplaziert.
Aber trennen wir ihn einmal von diesem Gefährt und betrachten ihn gesondert. Wer ist er, welchen Dienstgrad hat er? Als Held wohl einen höheren. Und da dachte ich natürlich an einen Centurio, denn ein solcher führte eine Hundertschaft an. Man kann einen solchen Offizier leicht erkennen am roten Helmbusch (cresta), am Schild (scutum) und am Befehlshaberstab (vitis).
Der Reihe nach. Dem Helmbusch nach zu urteilen, wäre der Soldat auf der Karte nur ein einfacher Legionär. Denn diese trugen normalerweise überhaupt keinen Kamm auf dem Helm, und wenn, dann nur bei Paraden. Und dabei nur in Längsrichtung. Niemals aber in der Schlacht. Denn da war die Cresta eben dem Centurio vorbehalten, und er trug sie quer. Der Sinn davon war, dass er als Befehlshaber im Schlachtengetümmel für sein Fußvolk auffällig sichtbar sein musste.
Originales Scutum vom 3. Jh. aus Dura Europos; zeigt interessanterweise einen Löwen über der Unterkante
Als nächstes interessierte ich mich für den Stab, den unser Wagenlenker in der linken Hand trägt. Auch dafür konnte ich kein antikes Vorbild finden. Vielmehr trägt der Centurio eine „Vitis“ mit sich, einen etwa einen Dreiviertelmeter langen Stock, wie er auch auf der obigen Rekonstruktion zu sehen ist! What for? „Horribile dictu“ („schrecklich, es aussprechen zu müssen“) würde der Lateiner sagen: der Prügel war aus knorrigem Rebholz und diente dazu, Untergebene, die sich etwas zuschulden hatten kommen lassen, schwer zu züchtigen. Und das konnte sehr böse ausgehen, wenn der Centurio ein Sadist war.
Wir besitzen darüber nämlich sogar einen Bericht des römischen Schriftstellers Tacitus: In einem Militärlager in der römischen Provinz Pannonien wurde im Jahr 14 n. Chr. der Centurio Lucilius in einem Aufruhr ermordet. Ihm hatte der Soldatenwitz den Beinamen ‚Noch einen‘ [cedo alteram] gegeben. Hatte er nämlich seine Vitis auf dem Rücken eines Soldaten entzwei geschlagen, pflegte er mit lauter Stimme nach einer neuen und immer wieder einer neuen zu rufen.
Schließlich noch zum römischen Schild. Anfänglich von ovaler Form, setzte sich Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. der rechteckige Typus durch. Er sah also auch zu allen Zeiten anders aus, als auf der Tarotkarte.
Nochmals: Wieder einmal, und ich hoffe, dass es nicht das letzte Mal sein wird, hat mir das Bild einer Karte zu einem Lernprozess, zu neuem Wissen verholfen, der ich vorher nur eine verkitschte Vorstellung vom römischen Militär hatte.
Das alles hatte aber nichts zu tun mit wesentlich wichtigeren Inhalten dieses gesamten „Ahnenpfad“-Decks. Denn Anna Rathkolb weist dankenswerterweise darauf hin, dass dieses Tarot erstmals die vier Reihen der kleinen Arkana auf vier Völkergruppen anwendet: indigen (Erde/Scheiben), asiatisch (Luft/Schwerter), nordisch/keltisch (Wasser/Kelche) und ägyptisch (Feuer/Stäbe).
Ich halte eine solche Sicht für sehr wesentlich (nicht zuletzt in Hinblick auf den anscheinend unausrottbaren Rassismus), und bin schon sehr gespannt auf weitere Karten, die ich alle natürlich noch nicht kenne. Versprechen kann ich natürlich nicht, dass mir nicht auch zu diesen wieder so mancher Unsinn einfallen wird! (LOL)
© Gerhard Baumann
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