Book of Shadwos Tarot | Vol 2 

Anmerkung von Anna Rathkolb

Was hat diese Darstellung mit Gerechtigkeit zu tun? Ich habe dieses Deck schon einige Jahre und kann mit diesem Bild eigentlich gar nichts anfangen. Das Einzige, was mir einfällt ist, dass sich die Dame die hohen Schuhe auszieht und offensichtlich Fußschmerzen davon hat. Eine Folge, die "Frau" in Kauf nehmen muss, wenn sie auf solchen Absätzen dahinstöckelt...

Book of Shadwos Tarot | Vol 2 

- So Below

Die Gerechtigkeit

Eine Rezension von Gerhard Baumann

Als ich dieses Tarotblatt sah, dachte ich mir auch, was soll das denn mit „Gerechtigkeit“ zu tun haben? Ja, natürlich, übertriebene Eitelkeit straft sich manchmal von selbst, etwa wenn sexy Schuhe, die aber zu eng sind, Hühneraugen auf den Zehen verursachen. Zu wenig, um sich ernstlich mit dieser Dame auseinanderzusetzen.

Aber als ich gerade zur Tagesordnung übergehen wollte, öffnete sich ein Spalt tief unten in meinem Unbewussten, und ich erinnerte mich vage, dass einmal ein antiker Schriftsteller etwas von einem schönen, von allen bewunderten, aber unbequemen Schuh geschrieben hatte, dessen schmerzhafte Druckstellen aber nur seinem Träger bekannt waren.

So ein Erinnerungsspalt lässt sich heutzutage relativ leicht – auch wenn man meist in der Provinz keine großartigen Bibliotheken zur Verfügung hat – durch das Internet erweitern. Und bald war klar, dass es sich um den großen griechischen Schriftsteller, Biografen und Philosophen Plutarch handelte. 

In seinen „Parallelbiografien“ hatte er sich mit dem Leben des Römers Lucius Aemilius Paul(l)us befasst, dessen fabelhafte Karriere in seinem Sieg im „Dritten makedonisch-römischen Krieg“ gipfelte (daher sein Ehrentitel „Macedonicus“) und mit einem prächtigen Triumphzug durch Rom gekrönt wurde. Der französische Maler Antoine Charles Horace Vernet hat dieses Ereignis 1789 mit kreativer Fantasie auf die Leinwand gebannt.

Plutarch stellt aber in der Folge fest, dass des Aemilius Privatleben leider nicht so glückhaft verlief wie sein militärisches. Er war mit Papiria, der Tochter eines Konsuls, verheiratet und hatte mit ihr vier Kinder, darunter sogar zwei sehr ruhmreiche Söhne.

Schließlich ließ er sich aber von ihr scheiden, wobei Plutarch vermerkt, dass für diesen Schritt keine konkreten Gründe dokumentiert sind, sodass er meint, es könne an der folgenden Geschichte, mit der man sich unmotivierte Trennungen zu erklären versuchte, etwas Wahres dran sein (womit wir m.E. auch in Bezug auf unsere Tarotkarte am springenden Punkt wären):

"Ist er nicht schön?"

Ein Römer ließ sich einst von seiner Frau scheiden, und als seine Freunde in ihn drangen und sagten: „Ist sie nicht anständig? Ist sie nicht schön? Ist sie nicht fruchtbar?“, streckte er ihnen seinen Schuh (die Römer nennen ihn „calceus“) hin und sagte: „Ist der nicht schön? Ist er nicht neu? Aber kann mir  einer von euch sagen, wo er meinen Fuß drückt?“

Wo drückt der Schuh?

Und Plutarch fügt noch an, dass es nicht nur große Verfehlungen sind, die zu Scheidungen Anlass geben, sondern dass auch kleine, aber häufige Reibereien und wachsende charakterliche Veränderungen zu Entfremdungen bei Partnern führen können – oft genug unbemerkt für die Öffentlichkeit und sogar für den Freundeskreis. 

Plutarch wiederholt  die obige Parabel sogar noch ein zweites Mal, und zwar in seiner Eheberatungsschrift  „Conjungalia Praecepta“.

Calceus senatorius (Castro de Altamira; Spanien); Foto: Álvaro Pérez Vilariño  (CC BY-SA 2.0) 

Luxusschuhe

Was haben High Heels mit Gerechtigkeit zu tun?

Wie wäre es, wenn wir diese ganze Geschichte auf die vorliegende „Gerechtigkeits“-Tarotkarte anwenden, und nur einfach die männliche Position gegen die weibliche umtauschen.

Ich gehe zunächst davon aus, dass unsere Dame verheiratet ist, denn als Einzelperson ohne Umfeld würde „Gerechtigkeit“ wohl kaum ein Thema abgeben. Diese Frau ist schön. Sie hat prächtiges Haar, das Gesicht ist hübsch, die Hände sind gepflegt, was schwere manuelle Arbeit ausschließt, die schlanken Beine lassen auch auf eine sonst makellose Figur schließen. Sie trägt ein seidig schimmerndes Kleid und reichlich Schmuck: eine schwere Halskette und große Ohrringe, vermutlich aus Jade, einem Schmuckstein, der einen gewissen exotischen Touch verleiht und bei gewissen Sorten („Kaiserjade“) überaus teuer sein kann.

Rechts unten im Bild ist auch noch ein Halsreif abgelegt, den vermutlich ein hochkarätiger Brillant schmückt. Armreifen und ein Paar hochpreisiger roter High-Heels vervollständigen den Eindruck von Reichtum. Doch hier stock' ich schon, denn der rechte Pumps bereitete offensichtlich an den Zehen Schmerzen, da die Dame – gerade nach Hause gekommen – diese sofort massiert. Diese heimlichen Qualen hat sie, nehme ich an, wohl dort, wohin sie ausgegangen war, sei es auf eine Party, ins Boulevard-Theater, zum Mädelsabend oder Luxusrestaurant-Besuch, gewiss zu verbergen gesucht.

Riskieren wir es, auch in unserem Fall die Plutarchsche Parabel anzuwenden. Demnach wäre ihr Ehegatte Star-Chirurg oder -Anwalt, Banker, Unternehmer, Investor oder gar eine milliardenschwere Person aus der Hochfinanz. Und ich postuliere jetzt einmal, dass er sich diese schöne und elegante Frau in erster Linie nur zur Repräsentation hält, um seinem männlichen Ego zu schmeicheln, wenn sich die Herrenwelt nach ihr umdreht.

Er will vor allem mit ihr angeben, wie mit seinem Ferrari, der Jacht, der Mitgliedschaft in den angesehensten und restriktivsten Clubs, den Großwildjagd-Trophäen in seinem schottischen Schloss, der Villa in Monaco mit Meerblick, Butler und etlichen echten Picassos an den Wänden, und mit seiner Penthouse-Wohnung in New York mit Blick auf den Central Park, in der man keinen Finger mehr selbst rühren muss, da die neuesten elektronischen und KI-gesteuerten Apparaturen nach dem Druck auf die jeweilige Fernbedienungstaste alles maschinell erledigen.

Was ihn hingegen überhaupt nicht interessiert, ist der seelische Zustand seiner Gattin. Sie ist nicht nur schön, sondern auch gebildet, würde gerne vom Gatten öfter ins Theater und Konzert begleitet werden, um sich dann über das Kulturerlebnis ausführlich unterhalten zu können. Er hingegen bevorzugt mit seinen Kumpeln den Golfplatz. Auch liest er nicht einmal ein Buch, sondern verkündet lautstark und ungeniert, dass die „Financial Times“ die einzige Lektüre darstellt, die ihn fasziniert.

Sie würde gerne auch einmal Urlaubsreisen machen, um abendländische Kunstschätze zu bewundern oder fremde Kulturen kennenzulernen, er zieht es vor, stundenlang an einem Karibikstrand geröstet zu werden, in der Linken einen Cocktail und in der Rechten das Handy im Dauerbetrieb, um unablässig die Börsenkurse zu studieren und seine Geschäfte weiterzutreiben.

Auch seine sexuellen Bedürfnisse befriedigt der Egomane längst auswärts. Auch ihren Wunsch nach gemeinsamen Kindern hat er stets ignoriert, denn seine Ungebundenheit und Bequemlichkeit geht ihm über alles – das Geschrei und „Gewusel“ von Kindern hasst er. Das alles sind im übertragenen Sinne die Luxusschuhe, die auf ihrer Seele Wundblasen, aufgeriebene Verletzungen und „Hühneraugen“ hinterlassen.

Gattin "Mausi" schaut weg, während Lugner seinem Opernballgast in den Ausschnitt blickt. Foto: Andreas Tischler.com 

Man könnte mir nun vielleicht entgegenhalten, dass so ein Szenario reichlich übertrieben sei, kaum realistisch. Ich trete gerne gleich den Gegenbeweis an. Ein „kleiner Fisch“ ist da noch Richard „Mörtel“ Lugner, der es aber immerhin auf fünf Scheidungen und sechs Hochzeiten gebracht hat (letzter „Scheidungsrichter“ war der Tod), und sein männliches Ego darüber hinaus mit einer Menge weiblicher Stars und Starletts als seine Wiener Opernballgäste aufpolieren musste.


Wesentlich ärger und unmenschlicher aber verhielt sich der milliardenschwere griechische Reeder Aristoteles Onassis.

Er – als moderner Odysseus fern allem Musischen – bildete sich ein, Maria Callas, die auf allen Opernbühnen und Konzertpodien der Welt nahezu unangefochten größte Sängerin des vorigen Jahrhunderts,  erobern zu müssen.

Seine erste Gattin, Athina Livanos, mit der er zwei Kinder hatte, ließ sich daraufhin schieden. Als auch noch deren Sohn bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückte, nahm sie sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben.

"Der Rest ist Schweigen": Onassis und Maria Callas. Quelle

"Die Kluft wurde unüberbrückbar": Onassis und Jackie Kennedy. Quelle

Da der Machismo des Milliardärs jedoch nach noch mehr Publicity lechzte, trennte er sich von der Primadonna assoluta, wie man die Callas nannte (er hatte letztlich auch ihre große Künstlerkarriere ruiniert, an die sie nach diesem unglückseligen Intermezzo nie mehr anknüpfen konnte), und vermählte sich mit Jackie Kennedy, der Witwe nach dem ermordeten amerikanischen Präsidenten. Auch da wurde eine später bereits im Raum stehende Scheidung nur durch den Tod des Reeders  hinfällig.


Zu wenig präzise Informationen liegen vor, um den nicht unbegründeten Verdacht zu verifizieren, dass auch die eheliche Beziehung eines Donald Trump in eine ähnliche Kategorie gehört.

Donald und Melania Trump: "Ein Bild grenzenloser Zuneigung?"

Foto: Lynne Sladky/AP/dpa; Quelle

Somit endgültig zur „Gerechtigkeit“. Sofort sind meines Erachtens vier Punkte anwendbar, die Anna Rathkolb in der negativen Rubrik zu diesem Arcanum anführt: „Vorurteile“, „einseitige Beurteilung“, „Ungerechtigkeiten“ und „falsche Anschuldigungen“.

Und wen würde es daher wundern, dass sie auch in der Öffentlichkeit unwillkürlich immer öfter einen deprimierten, traurigen Eindruck hinterlässt. Lange genug hat sie eine „Maske“ getragen und die Fassade einer gespielten Glückseligkeit aufrecht erhalten.

Wen würde es wundern, dass unsere Dame depressiv geworden und „ausgebrannt“ ist, und sich immer sicherer wird, dass eine Scheidung unvermeidlich sein wird, wenn sie nicht noch größeren und vielleicht irreversiblen seelischen Schaden erleiden wird wollen.


Aber simultan höre ich auch die Stimmen derer, die ihrer eleganten, modischen und Reichtum spiegelnden Erscheinung entgegenschallen: „Was macht denn die für ein saures Gesicht? Die kann doch keine Sorgen und keinen Kummer haben. Die hat doch alles, ist finanziell luxuriös ausgestattet, fährt mit einem eigenen Sportwagen, kann sich die teuersten Fetzen und Schlapfen leisten, rennt dauernd zum Friseur, ist mit Schmuck behängt wie ein Hutschpferd. Wahrscheinlich ist ihr nur langweilig. Arbeiten hat so eine doch nie gelernt. Soll sie sich doch endlich Kinder anschaffen. Aber sicher will die Zicke keinerlei Verantwortung übernehmen und auf nichts verzichten...“


Und nicht nur Fremde denken so, sondern auch im „Freundeskreis“ gibt es hinter vorgehaltener Hand ähnliche Äußerungen.

...man zeigt Verachtung...

...man rümpft die Nase...

...man zerreißt sich das Maul...

Wer hätte solches maliziöses Getratsche in der Gesellschaft besser verbildlichen können als Franz Xaver Messerschmidt (1736 - 1783) mit seinen im Besitz des Wiener Belvedere befindlichen Charakterköpfen.

Und jetzt möchte ich noch eine pessimistische Vision zur wohl unvermeidlichen Scheidung unterbreiten.

Gesetzt den Fall, dass sich der Ehemann gewiss den teuersten Rechtsanwalt leisten wird können, bei dem er „zufällig“ auch noch etwas gut hat, weil er ihm in dessen jungen Jahren für die Gründung der Kanzlei ein hohes Darlehen verschafft hat.

Und der Scheidungsrichter ist – wie es ebenfalls der „Zufall“ will – Golfpartner des Ehemanns. Dieser hat im übrigen vorausschauend schon seit langem seine baldige Ex-Gattin an allen Schaltstellen schlecht gemacht und sie infamerweise ausgerechnet sogar der Frigidität und seelischen Grausamkeit geziehen.

Die Frau hatte hingegen nie ein eigenes Einkommen und muss in Zusammenhang mit der Prozessvorbereitung auf ein relativ kleines Erbteil und ihre Ersparnisse zurückgreifen.

Aber unser großes Arcanum heißt ja „Gerechtigkeit“. Und so schließe ich mit dem optimistischen Ideal, gemäß dem Anwälte und Richter alle Subjektivität, Freunderlwirtschaft oder gar Korruption strikte von Justitias Waagschalen fernhalten.

Und ohne Zögern einem schleimigen Tatsachenverdreher und Verleumder ohne Ansehen der Person auch die Schärfe des Richtschwerts vor Augen führen.

Ich gehe davon aus und vertraue darauf, dass das normalerweise in unserer Rechtsordnung auch so ist, und dass daher mit ein bisschen Glück auch unsere Dame am Schluss des Tages sich bequemere und passendere Schuhe (im übertragenen Sinne) anmessen lassen wird können. „Gerechtigkeit“ wird ihr noch ein lebenswertes weiteres Dasein ermöglichen.

© Gerhard Baumann

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